Die Huppert in der Huppert

In „Süßes Gift“ verlässt sich Claude Chabrol auf den Spielwitz seiner Lieblingsschauspielerin und kreist auf hohem Niveau um sich selbst. Sein neuer Film schenkt Isabelle Huppert ein gediegenes Heim und eine Verbrecherrolle ohne rechte Motivation

von ANKE LEWEKE

Irgendwie war sein fünfzigster Film auch eine kleine Hommage an eine unergründliche Arbeitsgemeinschaft. Für einen Kinoabend gewährte Claude Chabrol mit „Das Leben ist ein Spiel“ Einblick in eine langjährige Komplizenschaft: Als abgebrühte Trickbetrügerin durfte Isabelle Huppert in schönster Offensichtlichkeit ihr Gegenüber täuschen, in Windeseile Perücken, Kostüme und damit Identitäten wechseln, während Michel Serrault als Chabrols Alter Ego ihr bei allen üblen Machenschaften Rückendeckung gab (und dabei ausgiebig Chabrols Lieblingsbeschäftigung nachging: gut essen und dazu erstklassigen Wein trinken). Da wurde über weite Strecken ein vertrautes Zusammenspiel zelebriert, stellvertretend für das jenseits der Kamera.

Es war Chabrol, der für Isabelle Huppert als erster Regisseur das Gesicht hinter dem Gesicht kreierte, der die Abgründe hinter den zarten und verletzlichen Sommersprossen entdeckte. So unterwanderte er das Image des still und stumm vor sich hin leidenden Mädchens, auf das die junge Schauspielerin mit Filmen wie Claude Gorettas „Die Spitzenklöpplerin“ oder Patricia Moraz’ „Die Indianer sind noch fern“ Mitte der Siebziger festgelegt war. Für Chabrol wurde Huppert zur gnadenlosen Elternmörderin („Violette Nozière“), zur geschäftstüchtigen Engelmacherin („Eine Frauensache“) oder zur notorischen Ehebrecherin („Madame Bovary“) – immer mit dem Zuschauer auf ihrer Seite.

Vielleicht liegt zwischen Hupperts ungerührter Miene und ihren verwerflichen Taten das eigentliche Spannungsfeld von Chabrols Filmen. Plötzlich entsteht diese Ahnung einer Fratze hinter der schönen Fassade. Ein hässliches Antlitz, das nicht den zerrissenen Charakter ihrer Figuren wiedergibt, sondern gesellschaftlicher Natur ist. Aus der Ambivalenz der Huppert’schen Frauenporträts rekonstruiert Chabrol Regelwerke unterschiedlicher Schichten, die ein Individuum zum äußersten Befreiungsschlag treiben können. Wenn die Huppert schließlich loslegt, reflektiert ihre Mimik die Verlogenheit der Vichy-Regierung, die heimelige Bigotterie des normannischen Landlebens oder die Engstirnigkeit des Pariser Kleinbürgertums der letzten Jahrhundertwende – das Gesicht einer Schauspielerin als Manifestation der Schattenseiten des schönen Scheins. Oder um mit Chabrol zu sprechen: „Das wahre Böse ist schön, und wenn das wahre Böse ein Gesicht hat, dann das von Isabelle Huppert.“

In „Süßes Gift“ geht Chabrol sogar noch einen Schritt weiter. Misstrauisch begegnet man Hupperts Gesicht auch in seinem neuen Film. Zu liebenswürdig der Blick, zu rosa die Kostümchen, zu herzlich die Begrüßungsküsse, zu süß die selbst gebraute Trinkschokolade. Als millionenschwere Erbin einer Schokoladenfabrik scheint sie endlich das geschafft zu haben, was ihren bisherigen Chabrol-Figuren verwehrt blieb: ein Dasein in angemessenem Luxus, in gediegener Umgebung, mit liebenswertem Ehemann. Womit man bei Chabrols zweitliebster Beschäftigung angelangt wäre: der entlarvenden Studie gutbürgerlicher Verhaltensweisen.

Scharf, unerbittlich, gnadenlos ging der Regisseur lange Zeit bei seiner Ethnografie der Bourgeoisie vor, eine Herangehensweise, die mit der Umschreibung „chabrolien“ in Frankreich zu einem feststehenden Begriff wurde. Inzwischen schlägt er seine Opfer mit ihren eigenen Mitteln. Chabrols Kamera scheint sich jetzt pudelwohl zu fühlen, wenn sie in „Süßes Gift“ über feine Ledergarnituren und blank geputztes Parkett gleitet. Sprach aus dem Personal früherer Chabrol-Filme noch der Geist der Arrivierten, die sich mit piefigem Stolz in den Symbolen ihres Komforts bewegen, pflegen seine neueren Figuren ein selbstverständlich-symbiotisches Verhältnis mit den Insignien des Reichtums. In „Biester“ scheint Jacqueline Bisset als Madame Lelièvre mit den Mahagoniregalen ihrer ausufernden Bibliothek verwachsen. Genauso wie in „Süßes Gift“ die vom Pianistengatten live in den Salon gelieferte Musik eine perfekte Harmonie mit Hupperts besinnlichen Nachmittagseinladungen ergibt. Kurz: Chabrols Figuren wissen nicht mehr, wohin mit dem Luxus – und Chabrol weiß es letztlich auch nicht.

„Chabrolesk“ könnte man die Arbeiten nennen, in denen Chabrol auf hohem Niveau nur mehr um sich selbst kreist. Seiner Lieblingsschauspielerin hat er mit diesem Film jedenfalls das Geschenk einer Verbrecherrolle ohne wirkliche Motivation gemacht. Das Böse sieht in „Süßes Gift“ nicht nur aus wie Huppert, es ist auch nur Huppert drin. Chabrol lässt ihrem Spielwitz alle Freiheit und interessiert sich kaum für irgendwelche Intrigen über vertauschte Kinder, herbeigeführte Unfälle und inzestuöse Andeutungen. „Süßes Gift“ feiert eine Schauspielerin – und eben auch eine Arbeitsgemeinschaft, in der ein Regisseur für seinen neuen Film wenig mehr als seine Darstellerin braucht.

„Süßes Gift“. Regie: Claude Chabrol. Mit Isabelle Huppert, Jacques Dutronc u. a., Frankreich 2000, 99 Min.