Sehnsucht nach Arkadien

In der Berliner Republik ist es schick geworden, vom Preußischen in der Baukunst zu reden. Dabei war preußische Architektur keineswegs so minimalistisch und puristisch, wie es mancher heute gerne darstellt

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Einer derer, die preußischer Corporate Identity wohl gänzlich unverdächtig scheinen, ist den Pathosformeln preußischer Typologie zeitweise selbst aufgesessen. In seiner „Berliner Kindheit um 1900“ zeigt sich Walter Benjamin fasziniert von der großstädtischen Architektur, dem baulichen Stil und der monumentalen Formenstrenge in der Reichshauptstadt. Als ständen da die „Langen Kerls“ des Soldatenkönigs in einer Reihe an der Friedrichstraße oder am Schöneberger Ufer, geometrisch geordnet, bürgerlich und puritanisch in der Gesinnung – gleichwohl die Quartiere von Zehlendorf bis Pankow, die Gärten von Sanssouci, Glienicke oder der Pfaueninsel gerade vom Gegenteil einheitlicher Architektur geprägt waren. So wild, lebendig und fantastisch war für den Autor nur das Leben vor den Bauten: in den Passagen oder im Kaiserpanorama.

Gut hundert Jahre später blüht die preußische Traditionspflege in Gestalt der Berliner Baumeister wieder auf: Man beschwört die Notwendigkeit einer zentralen Mitte von Stadt und Staat in der Absicht, das 1950 als „Preußenburg“ gesprengte Stadtschloss wieder aufzubauen. Zur Revision der ungeliebten Moderne gehört, das fiktive Bild vom identitätsstiftenden, nationalen Stil der gebauten Großstadt aus der Mottenkiste zu ziehen. Und gegen den Wandlungsprozess der zeitgemäßen Welt munitionieren sich Architekten mit Vokabeln, die schon 1916 der konservative Vordenker Speer’scher Bauten, Arthur Moeller van den Bruck, in seinem Buch „Der preußische Stil“ serviert hatte.

„Meine Architektur“, sagt Jürgen Sawade, Architekt vieler Berliner Bauten, darunter einige am Potsdamer Platz, „ist puristisch, sie ist einfach, klar, präzise und ehrlich. Ich bin Berliner und Preuße und als solcher in meiner ästhetischen Gesinnung Purist, ein Rationalist und zunehmend ein Minimalist.“

Man hört seine Bauten quasi im Stechschritt marschieren. Und die, auf deren Gräbern sie trampeln, von Schlüter über Knobelsdorff bis Schinkel, drehen sich im Grabe um. Wohl kaum etwas hätte jener Preußensehnsucht und ihrem Bauen so wesensfremd sein können wie die preußische Architektur selbst. Stilbildend war von 1700 bis 2000 nicht das großstädtisch Preußische, Berlinische oder Deutsche. Gebaut – und gedacht – wurde quasi privatissimo barock, französisch, renaissancistisch oder klassisch, neogotisch, romantisch oder englisch: also international – und dann und wann entstand in Berlin ein kleiner Bau, ein Museum oder eine Neue Wache, die schlicht, sparsam und perfekt proportioniert in der architektonischen Sprache ein wenig vom Preußenmythos erzählen.

Das gebaute Preußen ist nicht in Berlin entstanden. Bei seinem später notierten Spaziergang über die – nach Sanssouci – wohl schönste Verwirklichung preußischer Architekturlandschaft, die Pfaueninsel, hat selbst der konservative Publizist und Verleger Wolf Jobst Siedler den eigentlichen Preußengeist erlebt, der mehr romantische Sehnsucht nach Arkadien als nationale Baukultur im Sinn hatte.

Den „Zaubergarten“ hat sich Friedrich Wilhelm I. nach dem Vorbild der berühmten englischen Parkanlage in Wörlitz 1787 im Süden Berlins an den Ufern der Havel anlegen lassen. Spiegel für die Gärten sind die paradiesischen Inseln der Südsee, über die Louis-Antoine des Bourginville 1771 berichtet hatte. Man träumt sich die Welteroberung nach Hause, indem Menagerien mit Affen und Tigerkatzen, Volieren und Gehege für Pfauen, Kondore und Kanarienvögel errichtet werden. Natur und Landschaft verschwimmen mittels angelegter Wege und Ausblicke zu einem Gesamtkunstwerk aus inszenierter Perspektive und Wildnis.

Neu ist das nicht: Die Baumeister von Friedrich dem Großen bis zu Friedrich Wilhelm IV. lassen sich von den Vorlagen und Ansichten der „Voyages pittoresques“ des Richard des Saint-Non inspirieren. Die italienischen Landschaften, die antiken Ruinen, die Arno-Gärten von Florenz und Goldküsten begleiten ihre Visionen. Der spätere Kaiser Friedrich III. brachte das Internationalistische zum Ausdruck, als er in Palermo weilte und meinte, alles sehe aus wie in Potsdam.

Auch das 1794 bis 1798 entstandene Schlösschen auf der Pfaueninsel wird durch die Sehnsucht nach Fremdem inspiriert: Als römisches Landhaus auf der höchsten Stelle der Insel angelegt, mit zwei Türmen und einem kulissenartigen, ruinenhaften Abschluss nach zwei Geschossen, gleicht es einem Sammelsurium aus mittelalterlicher Burgarchitektur, römischem Belvedere und englischen Pflanzenhäusern, wie sie damals modern wurden. Weder auftrumpfenden Barock noch einen Klassizismus hat sich Friedrich Wilhelm II. hier von Johann Gottlieb Brendel anlegen lassen, sondern eine „Feenarchitektur“, wie Theodor Fontane später schrieb. Im Innern fließt die ganze Welt zusammen: die Täfelung im gotischen Stil, die Gardinen aus ostindischem Kattun, das Turmzimmer als Bambushütte: Was ist daran preußisch? Alles.

Zeitgleich mit dem Schloss entstand am Ostufer die Meierei, die ein verfallenes gotisches Gebäude und ein Zitat der englischen Priory in William Shenstones Landschaftsgarten The Leasowes darstellen sollte. Friedrich Wilhelm III., seit 1797 Nachfolger des Pfaueninselschöpfers, greift noch tiefer in den allegorischen und symbolischen Baukatalog. Im Zentrum der Insel wird 1824 das Kavaliershaus im Tudorstil nach Plänen Schinkels umgebaut, 1832 entsteht der Luisentempel als antiker Portikus, die Meierei wird erweitert und die Insel nach Plänen der Hofgärtner Ferdinand Fintelmann und Joseph Peter Lenné mit Gärten nach den französischen Jardins des Plantes sowie Palmenhäusern dekoriert, „die uns an die fernen Tropen mahnen, wohin uns unsere Wünsche so oft tragen, dort, wo die Vegetation in ihrer ganzen Macht herrscht“, wie Fintelmann dilettantisch dichtet. Clou und Abschluss der Insel war die Bekrönung des Palmenhauses 1854 durch eine indische Kuppel, eine künstlerische Vermischung aus Klosteranlage und dem Londoner Kristallpalast.

Mit ihrer geografischen Lage in Nachbarschaft zu Sanssouci bildet die Pfaueninsel nicht nur die Verlängerung der Potsdamer Kulturlandschaft. Sie bedeutet in ihrer Verspieltheit auch deren Steigerung. Eine Inszenierung des Privaten waren schon die Schloss- und Gartenanlagen von Sanssouci 1745 gewesen. Nicht mehr die repräsentativen Stadtschlösser bildeten am Beginn des 18. Jahrhunderts die Identifikationsobjekte der Fürsten, sondern die Residenzen draußen vor den Toren der Stadt, inmitten einer künstlich gewandelten Natur. Versailles, das Schloß Schönbronn bei Wien oder der Escorial bei Madrid sind Zeugen dieser Arkadiensehnsucht.

Der Alte Fritz und Sanssouci seien Ausdruck einer „ganz unpreußischen Wurstigkeit“, wie Karl Anton Vororth damals über den Bauherrn Friedrich schrieb. Das „Gesamtkunstwerk“ Sanssouci sei deshalb gelungen, da „Am Wüsten Berg“ kein Abbild groß angelegter Stadtschlossarchitektur entstand, sondern ein kleines Privatensemble samt Terrassen für Weintrauben, Feigen und Orangenbäumchen: eine Mischung aus Schloss Rheinsberg und Orangerie. „Schlechter Stil“ bei dem allegorischen Programm, das aus fetten Weingöttern besteht, warf ihm hundert Jahre danach Berlins Stadtbaumeister Karl Friedrich Schinkel hinterher. In Wahrheit ging es um nichts mehr als eine „Maison de plaisance“, den „Wohnsitz eines einfachen Bürgers“, wie Johanna Schopenhauer noch später schrieb.

Selbst in Berlin wird Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von den Baumeistern ein Erbe adoptiert und fortgeschrieben, das sich zu Unrecht auf das Etikett oder die Chiffre „Preußischer Stil“ reduzieren lässt. Langhans baut zwar das Brandenburger Tor, Schinkel das Alte Museum und die Bauakademie oder Stüler das Neue Museum auf der Museumsinsel – heroische Bauten mit heroischen Zitaten der Antike, die den Ruf des strengen Berliner Klassizismus begründen. Ganz unpreußisch sind sie jedoch nicht nur in ihrer Ornamentik und fantasievollen Ausgestaltung, sondern auch in ihrer stadträumlichen Verspieltheit, ihrem Eklektizismus und frühen Funktionalismus.

Nach der Gründerzeit planen Messel, Endell und Poelzig die Großbauten für die Hauptstadt. Entstanden sind die spezifische berlinische Großstadtarchitektur eines anything goes europäischer Epochen sowie Typologien für moderne Industrie-, Geschäfts- und Wohnbauten. Das halten das Reich und die Welt für das Preußische in der Baukultur. Und selbst das „steinerne Berlin“, jene monströse Hässlichkeit aus Mietskasernen, Hinterhöfen und Straßenschluchten, wird Kult.

„Was ist Preußischer Stil?“, fragt Wolf Jobst Siedler am Ende seines Rundgangs auf der Pfaueninsel und gibt gleich die Antwort: „Schwer zu sagen, was das ist. Das mächtige Zeughaus? Das graziöse Sanssouci? Die Ruinenseligkeit der Pfaueninsel?“ Der Begriff vom Preußischen Stil komme erst auf, als „die Sache“ bereits vorbei sei. Er ist eine Vokabel der Defensive, also heute unbrauchbar und ein Missbrauch aufgesetzter Traditionspflege, der, wie der Historiker Hans Mommsen meint, ein verquerer Nationalismus entsteigen könnte.

Rolf Lautenschläger hat Kunstgeschichte und Germanistik studiert und arbeitet seit 1993 als Redakteur für Stadtplanung, Architektur und Kulturpolitik in der taz Berlin-Redaktion