Die Barmherzigkeit des guten Geschmacks

Eine Frage der Sichtweise: Thomas Steinfeld zeigt mit dem Buch „Riff – Tonspuren des Lebens“, wie die Popmusik in die Literatur eingegangen ist

Steinfelds Verhältnis zu Pop ähnelt dem eines Fans von Prefab Sprout zu Zlatko

Marcel Proust wusste es schon 1896, als er seine „Lobrede auf die schlechte Musik“ schrieb: „So unbedeutend ihre Stellung in der Geschichte der Kunst ist, so unermeßlich ist sie in der sentimentalen Geschichte der Gesellschaft.“ Was für Proust seinerzeit noch die „schlechte Musik“ war, „wertlose Melodien“ oder „ärgerliche alte Leiern“, die nichtsdestotrotz „das Geheimnis von Tausenden von Leben“ beherbergten, ist für Thomas Steinfeld, den Literaturchef der FAZ, über hundert Jahre später die Popmusik.

Über diese hat Steinfeld ein Buch mit dem Titel „Riff – Tonspuren des Lebens“ veröffentlicht. Darin legt er dar, welche Spuren die Popmusik in Film, bildender Kunst und vor allem der Literatur hinterlassen hat, auf welche Art sie die „anderen Künste unterwandert“ hat. Steinfeld erzählt in 24 Kapiteln in lockerer Abfolge und frei assoziierend vor allem von den Schriftstellern, in deren Leben und Büchern die Musik ihre Spuren hinterlassen hat: Von Thomas Mann und Vladimir Nabokov, von Uwe Johnson und Peter Handke, von Thomas Pynchon und Bret Easton Ellis, und auch von Michel Houllebecq und Rainald Goetz. Und er zieht dabei mitunter die seltsamsten Linien: von den Eagles zu Hans Castorp, vom nicht mehr „kleinen Marcel“ zu Phil Collins, von den Schlagwerken des futuristischen Künstlers Luigi Russolo zu Nicholson Bakers Zeitanhalter Arno Strine.

Ungebetene Kurzbiografien mit überraschenden Einblicken und Wendungen: Das ist aufschlussreich, angenehm unphilologisch und lässt sich fein lesen. Doch wie bei Proust schimmert das gesamte Buch über eine Ambivalenz zu der von Steinfeld beschriebenen und analysierten „populären Musik“ durch: Er ist fasziniert von ihr, aber „Kunst“ ist sie nicht, kann sie nie sein.

Wenn er in seinem Vorwort der Popmusik die Eigenschaft zuschreibt, „daß die meisten ihrer begeisterten Hörer das innere Ohr zuklappen, wenn sie die späte Jugend hinter sich gelassen haben, und fortan nur noch das zu ihnen dringt, was sie schon von früher kennen“, mag das noch angehen.

Wenn er aber kurz danach behauptet, es gäbe seit vielen Jahren schon „nichts Neues mehr in dieser Musik“ und sie sei „ausgeschrieben bis in den kleinen Finger“, weiß man sehr genau, wer hier von welcher Warte aus spricht (und sein inneres Ohr schon früh zugeklappt hat): Ein Bildungsbürger wie aus dem Bilderbuch der Zeitung, hinter der immer ein kluger Kopf steckt, den die „Barmherzigkeit des guten Gesckmacks“ (Marcel Proust) leitet. Und ein 1954 geborener Mann, der sich über den Rockpop der Sechziger- und Siebzigerjahre hinaus nicht mehr wirklich für die Popmusik und ihre diversesten Entwicklungen interessiert hat. Dazu passt, dass Steinfeld durchweg von „populärer Musik“ spricht, nie aber von Popmusik, Popkultur oder gar Pop, und er Bandnamen und musikalische Gattungsbezeichnungen durchweg in Anführungsstriche setzt – so als könne er die Distanz zwischen sich und seinem Gegenstand, der Popmusik, nie wirklich überbrücken.

Andererseits wirft er sich doch beherzt in die Bresche gegen die Geringschätzung „der populären Musik“, sieht er in ihrer Allgegenwart immer eine Tonspur des Lebens mitlaufen, und argumentiert gegen Aldous Huxley („Freiheit und Individualität statt Dämpfung und Lenkung“) oder Walter Benjamin („vor allem die populäre Musik ist dazu angetan, der halben Welt eine Aura zu verleihen“).

Vor allem aber möchte er selbst eine „eine sentimentale Geschichte der Gesellschaft“ erzählen vor dem Hintergrund der Musik. Diese Gesellschaft wird bevölkert von Traumtänzern, Müßiggängern und Illusionisten, von Leuten, die lieben und geliebt werden, die verlassen und verlassen werden. Und die sich alle an einem Ort treffen, „wo man mit einem Klischee noch mehr erreichen kann als mit einer einzigartigen Erfindung, „einem Ort der träumerischen, ja magischen Selbstverwirklichung“, einem „Milieu des Luxus und der Verschwendung“.

Dass es an diesem Ort auch mal um Widerstand ging, um Protest, Subversion und Dissidenz, dass Pop immer auch ein Spiel von Anpassung und Verweigerung war und mittlerweile nicht nur als Musik allgegenwärtig ist, das blendet Steinfeld weiträumig aus, das kommt höchstens in Spuren und dann umständlich vorgetragen vor. Ein heller Schein zieht da bei Uwe Johnson durch das Dunkel der Welt: „Nichts an diesem Schein ist Anstiftung zur Revolte. Es sah nur so aus. Aber es ging bald vorbei.“

Popmusik ist für Steinfeld lediglich ein Wiedergänger, der mit den eigenen Helden nicht zu altern scheint (ja, und dreht nicht auch der DJ im Jahr 2001 am liebsten auf alten Technics-Geräten seine Platten?). Und sie ist am Ende ihrer Geschichte angekommen – mit „Techno“, mit „HipHop“ und den ganzen Samplemaschinen. Da ist die letzte Etappe der populären Musik durch den Verlust an Melodien gekennzeichnet, auch wenn das Jeans Team im Jahr 2000 sehr melodiös singt: „Wir singen eins, zwei, drei, vier, keine Melodien.“ Da raunt es bei ihm nur so durch die Zeilen, da wundert man sich doch sehr, wie Steinfeld am Ende mit Michel Houellebecq und Rainald Goetz die Geschichte von Punk bis 2 Step ohne viel Federlesens verkürzt.

Doch letzten Ende geht es ihm ja darum, auf den „Tonspuren des modernen Lebens den Unterschied zwischen den Werken der Bildung und den Werken der Unbildung aufgelöst“ zu sehen. Man zuckt zwar auch beim Lesen des Wortes „Unbildung“ wieder zusammen, aber Thomas Steinfelds Verhältnis zu Popmusik ist eben dasselbe, das ein Fan der „Pet Sounds“ oder von Prefab Sprout zu Zlatko, Christian und Co hat. Alles eine Frage der Sichtweise.

Insofern geht es in Ordnung, wenn Bob Seger „die Verstärker klingeln in meinem Kopf“ singt und Thomas Steinfeld in diesem Klingeln die Entsprechung sieht „zum langsam verhallenden hohen ‚g‘, mit dem sich bei Thomas Mann die Nacht über Deutschland senkt“. GERRIT BARTELS

„Riff – Tonspuren des Lebens“, DuMont Buchverlag, Köln 2000, 274 S., 38 DM