„Wir wissen im Grunde nichts über Polen“

Seit Anfang des Jahres ist Joachim Sartorius neuer Leiter der Berliner Festspiele. Eine seiner Maximen: „Nicht mehr über fremde Kulturen, sondern mit ihnen nachdenken.“ Ein Gespräch über Versäumnisse, Perspektiven, große Namen, junge Talente und die Unübersichtlichkeit von Gemischtwarenläden

taz: Die Festspiele haben ihre Motivation lange aus den Mängeln der Halbstadt Berlin bezogen. Diese Perspektive gilt heute als überholt. Aber trägt die Stadt nicht noch immer an vielen Altlasten aus dieser Zeit?

Joachim Sartorius: Einige Dinge haben sich für die Festspiele schon erledigt: Es geht nicht mehr um deutsch-deutsche Befindlichkeiten, elf Jahre nach dem Mauerfall. Doch es ist merkwürdig, wie viele wichtige Dinge an der Stadt vorbeigezogen sind. Im Bereich der Neuen Musik sind viele der größeren Orchesterwerke von Stockhausen, von Ligeti, von Messiaen und anderen nie in der Stadt aufgeführt worden. Da habe ich schon mit den Dirigenten Simon Rattle und Kent Nagano gesprochen, die dem Neuen gegenüber sehr aufgeschlossen sind. Das gilt auch für den Tanz. Es hat nie eine Retrospektive von William Forsythe gegeben; von Pina Bausch sind maximal drei Stücke gezeigt worden, nie ihr Frühwerk. Da gibt es tatsächlich ein Nachholbedürfnis. Doch darüber hinaus möchte ich betonen, dass keine große Metropole nur von der Kultur leben kann, die sie selber produziert.

Heute schmückt sich Berlin gern damit, dass internationale Künstler die Stadt zur Zeit sowieso wahnsinnig spannend finden. Dabei werden die Infrastrukturen an der Basis oft vernachlässigt. Können die Festspiele etwas dagegen tun?

Nach meinen Idealvorstellungen müssen Festspiele zweierlei leisten: Sie müssen natürlich große Namen bringen. Der andere Aspekt ist die Idee des Laboratoriums mit kleineren Programmen, um auch jüngere Gruppen länger hier zu halten. Für mich wäre es schrecklich, wenn dieses Theater – das gilt auch für andere Orte, die wir bespielen – nur und ausschließlich für Importe genutzt würde. Es muss gelingen, einige jüngere Regisseure an das Haus zu binden, die hier Stücke erarbeiten. Das bringt mich zu dem Punkt: Es gibt ja die Idee, eine zeitgenössische Tanztruppe in der Stadt zu gründen. Joachim Schlömer ist als Choreograf im Gespräch. Ich fände es sehr schön, wenn eine solche moderne Compagnie in diesem Haus ihr Domizil fände.

Der Wunsch nach einer zeitgenössischen Compagnie ist zwar schon lange in Berlin präsent und gehört auch zu dem Konzept des Berlin Balletts. Aber das steht bisher auf wackligen Füßen, abhängig von der Lösung, die Christoph Stölzl für die Opernhäuser findet. Haben Sie eine Strategie, um diesen Prozess nicht abwarten zu müssen?

Herr Schlömer und ich haben den Stier bei den Hörnern gepackt und das Projekt öffentlich bekannt gemacht. Aber zunächst liegt der Ball bei Herrn Stölzl. Die Idee war ja, durch die Zusammenlegung der Ballett-Compagnien rund drei Millionen freizusetzen für diese neue Compagnie. Ich habe diese drei Millionen nicht. Ich stelle gerne einer solchen Compagnie das Haus zur Verfügung, die Infrastruktur, die Probebühne. Aber ich kann keine Compagnie und ihren künstlerischen Leiter bezahlen.

Wie ist es zu Ihrem Engagement für den Tanz gekommen?

Mich hat Tanz schon immer interessiert. In den Siebzigerjahren habe ich vier Jahre in New York gelebt und mir alles angeschaut. Als ich beim DAAD war, habe ich ein paar Stipendien für europäische Choreografen freigeschaufelt.

Als Sie in Berlin den DAAD geleitet haben, galt diese Institution als eine lebenswichtige Zufuhr für die Kultur. Sie haben russische Künstler vorgestellt wie Prigow und Kabakow, an deren subversiven Potenzialen großes Interesse bestand. Heute ist von dieser Neugier auf Osteuropa nicht viel geblieben. Ist das berechtigt?

Das finde ich nicht. Wir wissen im Grunde nichts über das, was heute in Polen los ist, obwohl das Land achtzig Kilometer von Berlin entfernt ist. Wir wissen wenig über Ungarn, Tschechien. In der russischen Szene kennen wir die ältere Generation, aber kaum die 20- bis 30-Jährigen, die in Städten wie Nowosibirsk oder Wladiwostok eine spannende Fringe-Szene entwickelt haben. Mein großer Wunsch ist, wenn ich das Geld finde, schon mal im November, Dezember dieses Jahres die junge russische Szene vorzustellen. Nächstes Jahr würde ich gern einen kleineren Polen-Schwerpunkt setzen. Als Fernziel schwebt mir ein großes Projekt vor: Eine Ausstellung „Berlin–Moskau“, 1950 bis 2000, die an die frühere Ausstellung im Gropius-Bau anknüpft in Zusammenarbeit mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Erste Gespräche habe ich schon mit dem russischen Kulturminister und Frau Antonowa, der Leiterin des Puschkin-Museums, geführt.

In Ihrer Zeit am Goethe-Institut haben Sie einmal als Effekt der Arbeit benannt: „Nicht mehr über fremde Kulturen, sondern mit ihnen nachdenken.“ Könnte das auch ein Motto für die Festspiele sein?

Das ist ein Ziel. Diesen Bereich sehe ich überwiegend angesiedelt in öffentlichen Debatten. Ich bin mit Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt, im Gespräch, der letztes Jahr auf dem Potsdamer Platz Lyriklesungen von zwölf internationalen Dichtern unter freiem Himmel organisiert hat. Wenn es ihm gelingt, wiederum spannende Lyriker einzuladen, wie Derek Walcott, der aus der kreolischen Kultur kommt, oder Edouard Glissant aus Martinique, dann würde ich das gerne mit einer Diskussionsreihe über die ganz anderen Traditionen in diesen Kulturräumen verbinden. Ich komme ja von der Literatur und könnte mir zum Beispiel vorstellen, mal eine Woche lang die arabische poetische Moderne vorzustellen und mit europäischen Lyrikern zu diskutieren, weil die Haltungen zur Dichtung auf eine produktive Weise grundverschieden sind.

Sie engagieren sich sehr für Lyrik, als Übersetzer und Herausgeber. Dadurch haben Sie auch viel Berührung mit originalsprachiger Literatur. Wie deutsch oder deutschsprachig müssen eigentlich Festspiele in Berlin sein?

Das ganze Geschäft ist im Grunde „Übersetzung“ in einem umfassenden Sinn. Ich habe eine hohe Meinung vom Berliner Publikum, dass genusssüchtig, aber auch neugierig ist und es auf sich nimmt, Dinge manchmal nicht zu verstehen. Ich will die Festspiele sehr international halten. Es kann sein, dass in meinem neuen Mitarbeiterstab im künstlerischen Bereich, den ich im März vorstelle, auch Ausländer sein werden.

Wie alle großen Häuser, die viel Geld ausgeben, brauchen die Festspiele für ihr Programm kulturpolitische Rückendeckung. Darin liegt auch die Gefahr einer Verengung: dass die Inhalte der Kunst zu sehr mit politischen Zielen identifiziert werden.

Ich habe keinerlei inhaltliche Vorgaben bekommen, weder von Herrn Naumann noch jetzt bei den Gesprächen mit Herrn Nida-Rümelin. Ich bin da gelassen.

Ein Problem der Berliner Festspiele ist es in den letzten Jahren geworden, dass sie sich mit ihren großen Projekten so eng mit Berliner Häusern vernetzt haben, dass dadurch die eigene Kenntlichkeit verloren ging. Man erkennt nur noch am Logo auf der Eintrittskarte, ob es sich um eine Veranstaltung der Festspiele handelt.

Richtig. Es mutet ein bisschen wie eine große Gemischtwarenhandlung an. Viele Berliner wissen nicht, dass die Berlinale oder das Jazzfest Teil der Festspiele sind. Man muss die einzelnen Komponenten stärker strukturieren, konturieren und zeitlich konzentrieren. Deshalb will ich eine Stelle neu einrichten: für Öffentlichkeitsarbeit und Marketing.

Sind Sie erleichtert, Joschka Fischer als Dienstherrn gegen Julian Nida-Rümelin eingetauscht zu haben?

(Lacht) Was für eine Frage! Ich habe nie verstehen können, warum sich Joschka Fischer für die auswärtige Kulturpolitik so wenig interessiert. Denn aus meiner Sicht ist die Philosophie der Grünen und die Philosophie des Goethe-Instituts fast deckungsgleich, wenn es um Menschenrechte, die Förderung der Zivilgesellschaften und die Nachhaltigkeit künstlerischer Projekte geht.

INTERVIEW:
KATRIN BETTINA MÜLLER