„China ist noch längst keine Supermacht“

General Pan Zhenqiang, Professor an der Militärakademie in Peking, über Chinas mögliche Antwort auf die Raketenabwehrpläne der USA

taz: Als der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt im Dezember letzten Jahres mit dem chinesischen Parteichef Jiang Zemin und anderen sprach, lautete seine Botschaft: Europa wird sich nicht an einem kalten Krieg mit China beteiligen. Zur Zeit ist der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping in Peking. Erwarten Sie von ihm die gleiche Klarheit?

Pan Zhenqiang: Herr Schmidt hat diese Diskussion zu Recht eröffnet. Es gibt heute Kräfte in den USA, die die Konfrontation mit China suchen. Sie glauben, China sei eine aufstrebende Macht und genauso gefährlich wie Deutschland im letzten Jahrhundert. Für sie ist China kommunistisch und damit böse.

Wer sind die neuen kalten Krieger?

Die Bush-Regierung betont das Militärische. Der neue US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ist ein Freund von mir. Er ist aber auch ein Mann, der aus den Jahren des Kalten Krieges stammt, in denen er schon einmal Verteidigungsminister war. Donald war im Oktober bei mir. Wir hatten eine heftige Auseinandersetzung über das National-Missile-Defense-Programm.

Warum reagiert China so beleidigt auf die US-Raketenabwehrpläne?

Ich bin ja gar nicht gegen die Ziele von NMD. Wenn ich Amerikaner wäre und über ein technologisches Potenzial verfügte, das das eigene Land besser schützt, würde ich vielleicht auch sagen: Warum versuchen wir es nicht! Nur sind die Dinge nicht so einfach. NMD ist in Wirklichkeit eine Antwort auf die Weiterverbreitungsgefahr von Atomraketen. Doch das Weiterverbreitungsproblem ist für mich nicht mit militärischen, sondern nur mit politischen Mitteln lösbar. Nehmen wir einmal an, NMD sei technisch machbar – was würde dann passieren? Würde Nordkorea einfach klein beigeben? Nein, Nordkorea würde versuchen, die USA auf andere Weise zu bedrohen. Und Russland und China? Auch sie würden Gegenmaßnahmen ergreifen. Der Preis, den wir am Ende alle für NMD bezahlen würden, wäre die tiefe Erschütterung der globalen Stabilität.

Warum sollte der Europäer Scharping Ihrer Argumentation folgen?

Natürlich können die Europäer als Verbündete der USA deren Pläne nicht so kritisieren wie wir Chinesen. Aber schon nach Ende des Kalten Krieges, als die gemeinsame Bedrohung durch die Sowjetunion wegfiel, gab es Sorgen um den Erhalt des atlantischen Bündnisses. Was die Nato damals rettete, war die gegenseitige Beistandsgarantie für alle Fälle. Deren strategische Grundlage könnte durch NMD zerstört werden.

Wie wird China auf NMD reagieren?

Niemand kann Ihnen da eine genaue Antwort geben. Die Zahl unserer Langstreckenraketen oder Atomsprengköpfe zu erhöhen wäre eine Möglichkeit.

Eine andere Möglichkeit wäre, aus dem Atomwaffensperrvertrag, dem China 1992 beitrat, auszutreten.

An eine so destruktive Antwort glaube ich nicht. Bis zur Stationierung von NMD vergehen mindestens zehn Jahre. Wir haben also viel Zeit. Allerdings höre ich von russischen Kollegen, dass einflussreiche Leute in Moskau NMD befürworten, um anschließend mehr Geld von der Regierung zu verlangen.

Läuft das in Peking nicht genauso?

Ich würde das nicht tun. Aber genauso wie Washington im Zusammenhang mit NMD China zum Gegner erklären würde, wäre es auch umgekehrt. Es gibt heute gute Gründe, das Verhältnis zwischen den USA und China nicht sehr optimistisch zu sehen.

Sehen Sie eine Kriegsgefahr?

Kritisch ist und bleibt die Taiwan-Frage. China hat in diesem Punkt keinen Handlungsspielraum. Wenn Taiwan wirklich in Richtung Unabhängigkeit marschiert, müssten wir Maßnahmen ergreifen, das zu verhindern. Dabei wissen wir, dass Washington im schlimmstmöglichen Fall eingreifen würde. Folglich ist das eine ernste, sehr realistische Konfliktgefahr für beide Länder. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille.

Und die andere?

Auf der anderen Seite gibt es heute viele Probleme, zu deren Lösung militärische Stärke nichts beitragen kann. In allen neuen internationalen Sicherheitsfragen wie Drogen, Energieversorgung, Umweltverschmutzung und Terrorismus haben China und die USA gemeinsame Interessen. Die Welt ist heute viel komplizierter als im Kalten Krieg.

Ist ein Grund für die Komplikationen etwa Chinas wachsender Einfluss?

Hier liegt das zentrale Missverständnis. Viele im Westen glauben, China könne in einer relativ kurzen Zeitspanne zur Supermacht werden. China ist ein riesiges, vielerorts rückständiges Land. Wenn Präsident Jiang Zemin morgens aufwacht, denkt er nicht an NMD, sondern an die wirtschaftlichen Probleme, die Arbeitslosen und die soziale Sicherheit im Land. China braucht noch Generationen, um seiner Bevölkerung auch nur einen durchschnittlichen Lebensstandard zu garantieren.

Zur Zeit der Hungersnöte unter Mao hat China Anfang der Sechzigerjahre die Atombombe gebaut. Rückständigkeit und Rüstung müssen sich nicht widersprechen.

Ich versichere Ihnen, dass China in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren keinen Flugzeugträger bauen wird. Ich kann das nicht für immer versprechen. Aber in absehbarer Zeit sind wir an einer Projektion unserer Macht über die eigenen Grenzen hinaus nicht interessiert. Dazu fehlt uns schlicht die materielle Basis. INTERVIEW: GEORG BLUME