Das Streichholz sexy ausblasen

Steven Soderberghs Einladung an Fritz Lang und Ida Lupino. Obwohl auch andere, etwa Patrice Chéreau, Ehrgeiz für das Reich der Sinne zeigten, konnte im Wettbewerb der 51. Berlinale nur „Traffic“ an das erotische Kino der Retrospektive anschließen

von KATJA NICODEMUS

Früher war alles besser. Denn früher war Fritz Lang. Was natürlich Quatsch ist. Aber doch irgendwie stimmt.

Wie abgeschmackt, die Vorführungen der längst im filmhistorischen Olymp schwebenden Berlinale-Retrospektive gegen das aktuelle Programm auszuspielen. Aber bei einem Film wie Fritz Langs Zeitungsthriller „While the City Sleeps“ von 1956 kann einem schon ein bisschen wehmütig zumute werden. Zum einen, weil Dana Andrews, George Sanders und Ida Lupino hier ganz beiläufig und elegant eine unfassbare Unmenge von Whiskeys, Gimlets, Martinis, Champagnercocktails und anderen interessanten Getränken in sich hineinschütten. Bei dem ganz normalen Alkoholpegel dieses Trüppchens befände sich eine, sagen wir mal von Meg Ryan oder Gwyneth Paltrow gespielte Figur irgendwo zwischen Intensivstation und Entziehungskur. Vor allem aber liegt während des ganzen Films eine unbestimmte Erotik in der Luft, die immer dann kurz vor der Explosion steht, wenn sich Ida Lupino eine Zigarette anzündet. Man muss gar kein Anhänger der Bataille’schen Verschwendungs- und Verausgabungstheorien sein, um zu bedauern, dass heutzutage im Kino kaum noch über die Teintverträglichkeit hinaus gesündigt wird. Wenn sich zum Beispiel das L'Oréal-Model Milla Jovovich in Michael Winterbottoms Winterwestern „The Claim“ im tief ausgeschnittenen Barkleid den verwegen im Mundwinkel hängenden Glimmstengel anzündet, bleibt das nur Pose. Fehlt eigentlich nur noch die Einblendung des Firmenslogans: „Weil ich es mir wert bin“.

Immer wieder versuchten die Filme der Berlinale sich Erotik, Sex und Körperlichkeit zu stellen. Manchmal hatten sie dabei ihre Schwierigkeiten, bewegten sich die Bilder zwischen Sublimierung und Domestizierung via Eindeutigkeit. In Lasse Hallströms „Chocolat“ trägt Juliette Binoche zwar die tiefstausgeschnittenen Kleider ihrer Karriere, beschränkt sich aber darauf, die sexuell frustrierten Bewohner eines französischen Provinzdorfes mit Pralinen zu überschütten.

Weglassen oder zeigen? Öfter kann beides gleich bieder sein. Da schafft es die Independent-Produktion „Julie Johnson“, alle Körperlichkeit der Heldinnen wegzuinszenieren, was bei einer Liebesaffäre zwischen Lili Taylor und Courtney Love eine Leistung ist. So treffen sich die beiden eines Morgens auf einer Parkbank, und Taylor fängt an, von der ersten Liebesnacht zu sprechen. Eigentlich ist der ganze Sex schon in der Stimme, doch dann muss die Rückblende alles mit Streicheleinheiten bebildern.

Und wenn man alles zeigt? Ganz gewagt und nah und roh! In Patrice Chéreaus „Intimacy“ streicht die Kamera mal zärtlich, mal wild über ein ausgiebig bumsendes Paar, wechselt von der Halbtotalen in die Großaufnahme und zurück. Jedes Härchen und jede Bauchfalte wird abgetastet. Einmal sieht man Kerry Fox den schlaffen Schwanz ihres Partners lutschen. Chéreau will beides: die Körper entzaubern und ihre Leidenschaft feiern. So verwabert seine Love-Story zum Ideenkonstrukt.

Anders gesagt: Obsessiver Sex braucht eine selbstverständliche Form. In „Intimacy“ wirkt der kunstentschlossene Ernst, mit dem sich Chéreau in seine Sexszenen stürzt, letztlich nur verbissen. Und die kleine und auch ein bisschen alberne Kurzrolle von Marianne Faithfull in „Intimacy“ markiert auch deshalb einen plötzlichen Wirklichkeitseinbruch, weil man spürt, dass Faithfull um einiges mehr erlebt hat, als die Bilder herzustellen im Stande sind.

Warum sind die paar Hardcore-pornografischen Szenen aus Lars von Triers „Idioten“ so klar in Erinnerung? Vielleicht weil von Trier seine pornografischen Bilder nicht erotisch auflädt und lieber die Distanz wahrt, aus der ein Körper einfach wie ein – manchmal eben auch armseliger – Körper aussieht.

Armselig, auf sich zurückgeworfen, schutzlos und verletzlich sehen die Körper in Lucrecia Martels argentinischem Wettbewerbsfilm „La Cienaga – Der Morast“ aus. In der unerträglichen Schwüle des argentinischen Sommers verkriechen sich die Mitglieder einer ehemaligen Großgrundbesitzerfamilie im Bett, trinken am Pool Rotwein mit Eis, duschen und warten. Auf was auch immer. In „La Cienaga“ geht es ums Ganze, das heißt ums Kreatürliche. Es geht um Blicke und Gesten, die so selbstverständlich gefilmt sind, dass man nie auf die Idee kommen würde, sie inzestuös zu nennen. Und es geht um Körper, die in ihrer trägen Verschwitztheit genauso vergänglich sind wie die Kuh, die irgendwo draußen im morastigen Wald verwest.

Vom körperlichen Kino zum Kino als Körper: Die organisch-verwobene Struktur von Steven Soderberghs „Traffic“, macht sein Gesellschaftspanorama über Drogen und Drogenhandel zu einem fast schon eigenständigen Wesen. Bei Soderbergh markiert der Schnitt weniger eine Trennung als einen Energie- und Gefühlstransfer. So kann der Faustschlag eines mexikanischen Polizisten die Wut ausdrücken, mit der ein amerikanischer Familienvater in der vorhergehenden Szene allein war. „Traffic“ ist wie ein lebendiger Corpus, ein Filmorganismus, in dem sich Affekte und Verletzungen, Leben und Sterben in ständigem Austausch und Übergang befinden.

Und wenn dann Soderberghs Hauptdarsteller Benito del Toro in einer Schwulenbar in Mexico City ein Streichholz so sexy ausbläst, wie man noch nie einen Menschen glaubt ein Streichholz ausblasen gesehen zu haben, dann sind Fritz Lang und Ida Lupino irgendwie wieder dabei.