Auf dem langen Weg zur Wunschidentität

Die Programmzeitschrift als Indikator der neuen Verhältnisse: Der Fotograf Bernd Lasdin hat Neubrandenburger vor und nach der Wende in ihren Wohnungen porträtiert. Und auch Flensburger fotografiert er in Langzeitstudie. Die Porträtserien sind jetzt als Doppelband erschienen

von ANDREAS HERGETH

Für DDR-Verhältnisse war das Unternehmen des Neubrandenburger Fotografen Bernd Lasdin ungewöhnlich. Vor vierzehn Jahren wollte er sich von den Bewohnern seiner Heimatstadt ein Bild machen und porträtierte sie in deren Wohnungen. Waren im Sozialismus die eigenen vier Wände doch letzter Ort unverfälschter Privatsphäre?

Lasdin zeigt mit 55 schwarzweißen Porträts aus dieser Zeit vor allem, dass die DDR-Bevölkerung alles andere als uniform und mit ein und derselben Schrankwand lebte. Mitte der 80er-Jahre traten in der DDR Individualisierungstendenzen Einzelner immer mehr zu Tage. Selbst in Neubrandenburg.

Die Dokumentation dieses unliebsamen Prozesses gefiel den SED-Oberen nicht. Schließlich fotografierte Lasdin eben nicht nur Angepasste, sondern auch das ganze schräge, alternative Volk. Nur mit Mühe konnte er seine Bilder zu DDR-Zeiten öffentlich zeigen, einige wenige wurden in einer Zeitschrift veröffentlicht.

Vor zwei Jahren hat Bernd Lasdin die Porträtierten von einst erneut aufgesucht. Noch einmal wurden die Personen gebeten, ihre Aufnahme im häuslichen Milieu mit einem kurzen handschriftlichen Statement zu versehen. So entstand eine fotografische Langzeitstudie, die auf eindrucksvolle Weise soziale und persönliche Befindlichkeiten vor und nach der Wende visualisiert. Auf- und Abstieg, Verlust und Trauer, neuer Stolz und Besitztum – kurz: den so oder so im neuen Alltag angekommenen Osten.

Wie die beiden Schwestern, die 18- und 19-jährig als junge DDR-Bürger im Punk-Look posieren. Doch zehn Jahre später strahlen sie mit Kostüm und schwarzem Pulli nur noch den Charme von Sparkassenangestellten aus. Oder die 58-jährige Witwe, die auch zehn Jahre später umgeben von denselben Kissen, Blumen und Bildern auf dem alten Sofa sitzt. In ihrem Leben scheint sich nichts geändert zu haben. Die Dame ist nur älter geworden.

Da sind junge und alte Menschen, die früher ohne und heute mit Partner (oder umgekehrt) leben und dies als wesentlich betrachten. Wie der schwule Friseur, jetzt allein, der unter seine Aufnahme „es geht immer noch – schlimmer“ schrieb. Da sind die Erfolgreichen: neue Firma, neues Haus. Und die Alten: „Vieles hat sich verändert, aber unsere Ideale und Überzeugung haben wir uns erhalten“, resümiert etwa der einstige Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Neubrandenburg heute. Auf dem Tisch vor Frau und Herrn Chemnitzer liegt eine aufgeschlagene Programmzeitschrift.

Da ist der Parteiveteran, der sich 1987 vor Mustertapete mit Tulpen und dem Neuen Deutschland ablichten ließ. Heute nennt sich der alte Mann schlicht Rentner, hat im Rücken Raufasertapete und auf dem Sofatisch eine Fernsehzeitung liegen. Überhaupt wird die Programmzeitschrift zum Indikator der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse.

Für die Fortsetzung seines erfolgreichen ostdeutschen Projektes – „Zeitenwende“ ist bereits in der vierten Auflage erschienen und wurde als Ausstellung in ganz Deutschland gezeigt – hat sich Lasdin 1989/90 nach Flensburg aufgemacht. Schließlich ist es Neubrandenburgs Partnerstadt. Auch hier fotografierte der 49-Jährige Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus in deren häuslichem Umfeld und ließ die Originalabzüge mit einem handschriftlichen Kommentar versehen. Diese Prozedur wiederholte Lasdin zehn Jahre später. Mit „Westzeit-Story“ ist eine Fotodokumentation entstanden, in der 58 Lebensgeschichten von Chancen und Risiken heutiger sozialer Wirklichkeiten erzählen. Die westdeutsche Milieustudie gibt den Blick – ähnlich dem Neubrandenburger Projekt – auf Schicksalsschläge, Alter und Einsamkeit, Beziehungskrisen, Familiensinn, Marotten, soziale Turbulenzen frei. Die Vielfalt der Lebensentwürfe findet sich jedenfalls in beiden Städten.

Trotzdem gibt es wesentliche Unterschiede. Da sind zum einen die Drogenerfahrungen einiger porträtierter Flensburger und vor allem die vielen Bilder, die die Jüngeren auf der mehr oder weniger erfolgreichen Suche nach Identität zeigen. In einer Zeit, in der soziale Bindungen und traditionelle Orientierungen immer mehr an Bedeutung verlieren, bastelt sich halt jeder seine Wunschidentität zusammen. Das beinhaltet ständiges Ausprobieren in einer quasi verlängerten Jugend: „Ich bin auf meinem Weg!“, hat ein heute 40-jähriger Erzieher, früher Musiker und Drogenberater, unter sein Bild geschrieben. Vielleicht stellvertretend für viele Protagonisten des „Westzeit-Story“-Bildbandes teilt ein 33-jähriger Sozialhilfeempfänger mit: „Für mich zählt nur noch die Phantasie, in der Realität fühle ich mich permanent verarscht!“

Älteren Flensburgern sind mehrheitlich die verloren gegangene oder neu entstandene Partnerschaft, Gesundheit und beruflicher Erfolg wichtig. Etliche machen sich Gedanken über die Nachwehen des deutsch-deutschen Einigungsprozesses. Das alles eint sie mit Neubrandenburgern der älteren Generation. Denen sind verlässliche Familien- und Sozialbeziehungen nach wie vor wichtig. Weil sie in der Mangelwirtschaft DDR nötig waren. Und hier gleichen sich die Bilder Ost und West: Die Familie – wie immer sie auch aussieht – scheint systemübergreifend als Hort der Geborgenheit überlebt zu haben. Nur eine Person mochte sich mit dieser kleinbürgerlichen Heile-Welt-Sehnsucht nicht identifizieren: Beate Uhse ließ sich als Einzige nicht zu Hause, sondern im Büro ablichten.

Bernd Lasdin, „Zeitenwende/Westzeit-Story“, Edition Temmen Bremen/Rostock, 2 Bände im Schuber 49,90 DM