Alte und neue Festungen

Der Vizebürgermeister von Narva hat „großes Interesse an der Grenze“. Denn groß ist das Misstrauen gegen die Russen

aus Narva und IwangorodKLAUS-HELGE DONATH

Der Nordwind pfeift über die Brücke der Freundschaft. Hoch oben über der Narva warten hundert Grenzgänger auf die Abfertigung. Sie sind auf dem Weg von Estland nach Russland. Unten kämpft der Fluss gegen die mächtigen Böen. Für die Wartenden ist der Windschutz zwar in Sichtweite, aber noch gut anderthalb Stunden entfernt. Wenn alles glatt geht. Denn am russischen Kontrollpunkt fehlt Personal.

So lange habe man schon seit Monaten nicht mehr warten müssen, stöhnt die Rentnerin Vera Dimitrowna. Seit Estland vor zehn Jahren die Unabhängigkeit erlangte, überquert sie eine Staatsgrenze, um zu ihrem Garten und ihrem Wochenendhaus im russischen Iwangorod zu gelangen. Als der EU-Kandidat Estland im letzten Herbst die Bestimmungen des Schengener Abkommens einführte, verwandelte sich die durchlässige Demarkationslinie in einen Grenzwall, der mehr trennt als nur staatliche Hoheitsrechte.

Auf beiden Seiten des Grenzflusses sind hochmoderne Abfertigungsanlagen errichtet worden. Doch die Moderne wird von den mittelalterlichen Festungen überragt, die sich dräuend an den Ufern der Narva gegenüberstehen, seit der Deutschritterorden in Narva seinen östlichsten Vorposten errichtete und Iwan Grosni auf der Gegenseite eine russische Trutzburg hochziehen ließ: Iwangorod, mittelalterliche Quellen nennen es auch „Konter-Narva“. Deutsche, Schweden und Polen schlugen sich hier regelmäßig mit den Russen. Die Einheimischen, die Esten, meldeten erst 500 Jahre später ihren Anspruch als Nation und Staatsvolk an.

Zweimal die Woche macht sich Vera Dimitrowna in ihren Garten nach Russland auf. Für sie, die seit fünfzig Jahren in Narva lebt, bleibt es das „chaotische, schmuddelige, aber liebenswerte Russland“. Beileibe keine Empfehlung an die EU. Was wird aus dem russischen Grenzland, wenn Estland der Europäischen Union beitritt? Mausert es sich zum Aufnahmekandidaten? Oder verkommt es zu einer vernachlässigten Randregion? Eine Kulturscheide zwischen westlichem und östlichem Christentum verlief an dieser Naht seit je. Und die Esten misstrauen ihrem übermächtigen Nachbarn noch immer. „Wir haben größeres Interesse an der Grenze“, meint Narvas Vizebürgermeister Ants Liimets unverhohlen. Die ersten Jahre nach der Unabhängigkeit war die russische Minderheit im Land geduldet, aber nicht gern gesehen. Inzwischen hat sich die Spannung ein wenig gelegt. In Narva wird gebaut und investiert. Die einst triste Stadt hat sich verjüngt, obwohl aus der Hauptstadt Tallinn kein Geld kommt. Deren liberale Wirtschaftspolitik hält wenig von Regionalförderung.

Der russische Vizestadtchef Genadi Afanasjew klagt: „Russen haben es schwer, weiterzukommen, ob sie nun Estnisch können oder nicht.“ Afanasjew, der in einem estnischen Dorf aufgewachsen ist, hat kein Sprachproblem. Wo aber sollten Russen in Narva, die 96 Prozent der 78.000 Einwohner stellen, die Sprache lernen und praktizieren? Lena vom Business- und Euro-Infozentrum hat die Staatssprache nicht gelernt. Die junge Frau denkt aber nicht daran, Estland zu verlassen. „Unsere Verwandten drüben halten uns für reiche Bourgeois, in ihren Augen sind wir bereits zivilisierte Europäer.“

Spärliche Geschäftskontakte

Das Businesszentrum fördert in Kingisepp, jenseits der Grenze ein Obdachlosenprojekt. Darüber hinaus sind Geschäftskontakte spärlich. Mit der Visaregelung verschwand der rege Verkehr der fliegenden Händler. Darunter leidet vor allem Iwangorod, das den Besucher mit einem bröckelnden Hochhausskelett empfängt. Narva und Iwangorod – das sind Tag und Nacht, Wirtschaftswunder und Kriegsökonomie. Der neue Marktkomplex, der Händler aus Weißrussland und der Ukraine noch vor einem Jahr anzog, ist fast verwaist. Händlerinnen schlagen die Zeit tot. Vor den Eingängen umwerben Devisenschieber jeden Kunden. Ob sie nur mit Valuta handeln oder, wie Tatjana vom Telegrafenamt behauptet, auch mit anderen Dingen dealen? Die Jugend verlässt den 12.000-Seelen-Ort. Wer es nicht schafft, verfällt der Nadel.

Die Wasserwerke Narva Väsi drehten der Nachbarstadt vor zwei Jahren den Hahn zu, obwohl es seit Kriegsende ein einheitliches Versorgungssystem gab. Schulden in Höhe von 28 Millionen Kronen (3,5 Mio. Mark ), dem Vierfachen des jährlichen Stadtbudgets, hatten sich angesammelt. Ein russisches Gericht soll den Streitfall nun klären. Den Kontakt zwischen den Stadtoberen habe der Schuldenberg nicht belastet, meint Liimets nachsichtig: „Wir reiben ihnen das nicht jedes Mal unter die Nase.“ Imre Liiw, Narvas junger Bürgermeister, studiert nebenher in Tartu Philosophie. Ein Pendler zwischen praktischer Vernunft und Philosophie der Praxis. Nikolai Kolomeizew, sein russischer Amtskollege, kann davon nur träumen. Er klammert sich an das Prinzip Hoffnung. In zwei bis drei Jahren glaubt er, könne er die Zwillingsstadt wieder auf einen grünen Zweig bringen. Doch wie, ohne nennenswerte Hilfe von außen oder der Verwaltung der Leningrader Oblast? Dem neuen Grenzregime kann Kolomeizew nichts Gutes abgewinnen. „Handel und Tourismus wurden abgewürgt, und Arbeitskräfte wandern ab“, lautet sein Fazit. Zurzeit läuft ein Antrag der beiden Verwaltungen an die Unesco, das Ensemble der Festungen in das Programm der Weltkulturdenkmäler zu übernehmen. Das ist die einzige gemeinsame Unternehmung.

Im Container unterhalb der russischen Burg verkauft Sergej Kalenkin die grünen Kfz-Versicherungskarten. 28 Mark für zehn Tage im Euroraum. Ein Vermögen für Iwangoroder, in Estland immerhin die Hälfte der Arbeitslosenhilfe. Selenkin wohnt in Narva und verdient sich zweimal die Woche ein Zubrot. Nebenher ist er noch Funktionär des Verbandes der russichen Bürger in Narva, die am liebsten in die Sowjetzeit zurückkehren würden. Eine Minderheit. Als Euroskeptiker gehört Selenkin dennoch zu einer Mehrheit. Denn von den ethnischen Esten befürwortet nur ein Viertel den EU-Beitritt. Die Angst vor Überfremdung und Entmündigung, kaum praktikablen EU-Vorschriften und Konkurrenz haben die Stimmung unter den eigenbrötlerischen Esten kippen lassen. „Kauft estnisch, es schmeckt wenigstens“, heißt die neue Devise.

Die russische Minderheit, die „Eurorussen“, hält am Kurs Richtung Europa fest. Aus verschiedenen Motiven. „In der zukünftigen Weltmacht Europa fühlen sich Russen wohler als im kleinen Estland“, glaubt Afanasjew, „wir sind wohl von Natur aus etwas aufgeschlossener und neugieriger.“ Der entscheidende Grund dürften indes die Bürgerrechtsgarantien eines vereinten Europa sein. Die Eurorussen könnten eine Brückenfunktion wahrnehmen.

Bisher tut sich aber nur wenig. Das „Zentrum für grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ (ZGZ) mit Sitz in Tartu bemüht sich seit Jahren um Vernetzung. Das Projekt wird vom dänischen Außenministerium getragen und gibt vierteljährlich ein Infoblatt auf Russisch heraus. Hervorgegangen ist es aus einer Ökoinitiative zur Reinhaltung des Peipus-Sees, des viertgrössten europäischen Binnensees, der von Norden nach Süden die Grenze zu Russland bildet. „Es läuft nicht viel“, gesteht Eda Tagamets von der Kreisverwaltung in Tartu.

Der Handel liegt brach

Ein Riesenerfolg wäre es, wenn demnächst die Fährverbindung über den See ins russische Pskow wieder aufgenommen würde. Die Verhandlungen laufen seit Jahren. Die Entscheidung liegt aber nicht bei den lokalen Politikern in Pskow, die großes Interesse an Kooperation zeigen, sondern in Moskau. Im Kräftedreieck zwischen dem russischen Zentrum, den Grenzregionen und Tallinn versickert so manche Initiative. Moskau blockt, Tallinn ist darüber nicht sonderlich erbost. Eine russisch-estnische Regierungskommission soll im Sommer die drängendsten Fragen angehen. Vor allem die russische Zollpolitik, die auf estnische Waren doppelte Zölle erhebt und den Handel zum Erliegen brachte. Paradox daran ist, dass es vor allem die von der Landwirtschaft lebenden Russen in der Peipusregion getroffen hat.

Zölle und Grenzregime haben ihnen die Existenz entzogen. Statt der grenzüberschreitenden Arbeit versucht die ZGZ erst einmal, die eigenen Randgebiete zu sanieren und neue Arbeitsfelder im Tourismus und Handel zu erschließen. Die traditionellen Gemeinden reagieren indes schwerfällig.

Zwiebeln und Fisch der russischen Bauern lassen sich nicht einfach umetikettieren wie etwa Milch, „die vor dem Export nach Russland in Lettland neu abgefüllt wird“, erzählt Julia, die im Hafen von Kallaste die Fischereiflotte bewacht. Drei Kutter und acht Motorboote liegen im naturbelassenen Hafen vor Anker. Es gibt nichts zu tun seit der Eisschmelze. Die Fische sind der Kälte gefolgt und über die Seegrenze weg längst auf der russischen Seite. Dorthin würde Julia auch gern mal fahren. Doch die Fähre nach Gdow geht nicht mehr.