Helden wie wir

Popliteratur war schon immer affirmativ, allein mit Moralargumenten ist ihr nicht beizukommen. Von Rolf Dieter Brinkmann bis zu Christian Kracht – eine kleine Ehrenrettung des Genrebegriffs

von SUSANNE MESSMER

Popliteraten – das sind doch diese Jungs, die sich nie fragen mussten, wie die Bügelfalte in die Hose kommt oder was Zahlungsziele sind. Bildungsbürgersöhnchen, die sich den Kopf über die Marke ihrer Hemden zermartern und die die Innengestaltung deutscher Nahverkehrszüge in Selbstmordgedanken treibt. Snobs. Und trotzdem Helden wie wir: die feiern, trinken, Musik hören, masturbieren und Pickel ausdrücken, die Liebeskummer haben oder einsam sind. Und die darüber schreiben. Unverschnörkelt, geradlinig und zum Runterlesen, in einem Rutsch.

Popliteraten wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Florian Illies haben es geschafft, dass deutsche Literatur sich seit vier, fünf Jahren nicht mehr im Deutschunterricht, in Günter Grass und Patrick Süskind erschöpft – sondern dass endlich mal jemand darüber schreibt, was uns interessiert. Übers Jungsein, diesen privilegierten Zustand des Nicht-mehr-und-noch-nicht. Sie haben es erreicht, dass wir uns endlich mal wieder unterhalten, verstanden und manchmal sogar vertreten fühlen. Dass der Literaturmarkt ganz aus dem Häuschen geraten, beweglicher und demokratischer geworden ist und seine Kunden zweimal jährlich mit einer herrlich hysterischen Zahl neuer, viel versprechender Bücher irgendwelcher jungen Leute überschwemmt, die vor zehn Jahren kaum über ihr Tagebuch herausgekommen wären.

Dieser Befreiungsschlag hält nun allerdings schon so lange an, dass der Chor der Kritik lauter wird. Behaupten die einen einfach, der Boom sei längst vorbei, so läuft der Angriff der anderen auf den moralischen Vorwurf hinaus: Popliteratur sei unkritisch. Sie diktiere Spaß, Lifestyle, Konsum und Kommerz. Dissidenz gehe ihr völlig ab.

Johannes Ullmaier, der im kleinen, hehren Ventil-Verlag gerade ein materialreiches Buch mit dem Titel „Von Acid nach Adlon und zurück“ zur Geschichte der Popliteratur herausgebracht hat, teilt diesen Vorwurf von Herzen. Für ihn ist das Hauptkriterium guter Literatur, „realverwurzelt“ zu sein und außerdem eben einfach dagegen. Die aktuelle Popliteratur findet er, besonders im Vergleich zu jener der Siebziger- und Achtzigerjahre, „brav“ und „plan“. Was Wunder also, dass Ullmaier auf der Popkomm zu einer Diskussion zum Thema ausgerechnet den Moralisten Wiglaf Droste und Bert Papenfuß vom Prenzlauer Berg eingeladen hat, der in seinen Gedichten voller Kapitalismusschelte in den letzten Jahren tiefer in der Vorstellung vom politischen Auftrag der Literatur verstrickt ist als damals, als es die DDR noch gab. Und Drostes Meinung zur Popliteratur als opportunistisches Prinzip des „schneller, flacher, hohler“ kann man sich denken.

Begreift man Popliteratur aber nicht als Label, sondern als Arbeitsbegriff, taucht er das Genre in ein anderes Licht. Die Geschichte der Popliteratur reicht in Deutschland bis in die Siebzigerjahre zurück. Sie nahm Ideen auf, die bereits im Expressionismus, Dada und Surrealismus entwickelt worden sind. Und mit dem Blick auf eines ihrer zentralen Stilmittel, die affirmative Kritik, kommt man sehr viel weiter bei der Einordnung der heutigen Popliteratur als mit moralischen Argumenten. Schon bei Rolf Dieter Brinkmann, gewissermaßen dem deutschen Ahnherrn der Popliteratur, bedeutete – anders als heute – Affirmation die Collage heterogenen Materials, „unlinear und diskontinuierlich“. Sein Interesse an Pop und Mode, Hollywood, Trivialliteratur, Comics und Reklame schwankte deshalb zwischen Faszination und Ekel, weil es so vielschichtig war, Transformation möglich machte und die Grenzen einfachen Schwarzweißdenkens und konventioneller Kapitalismuskritik überschritt. Bei Brinkmann ist die Wirklichkeit nicht mehr authentisch, faktisch, originell und echt, sondern immer schon medial vermittelt: Ursprungsmythen sind nicht mehr möglich, Authentizität wird verworfen. Das Subjekt funktioniert wie ein Filter, der die Reize durchlaufen lässt und immer schon hinter ihnen verschwunden ist. Das Lob der Oberflächlichkeit bei Brinkmann ist zwiespältig. Es reagiert auf den „linguistic turn“, den strukturalistischen Einwand jener Zeit, darauf, dass es immer viel zu sehr um Bedeutung und Sinn gegangen sei und viel zu wenig um die Bedeutungsträger, die Sprache. Gleichzeitig hält dieses Denken bei Brinkmann aber an einer Trauer um die verlorenen Utopien von 1968 fest.

Diese Freude am Experiment ist es, die seit den Achtzigerjahren auf einem ganz anderen Dampfer der Popliteratur weitergesponnen wird. In den Büchern des Münchner Dreiergespanns Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister, die zehn bis fünfzehn Jahre älter sind als die heutige Popliteraten-Garde und in ihrem Habitus eher den Achtziger- als den Neunzigerjahren zuzuordnen sind, geht es auf eine Art um Pop, die sich eher ästhetisch beschreiben lässt als inhaltlich. Brinkmanns Schmerzrhetorik wird bei diesen Autoren radikalisiert, zu einer Bejahung eines aus vielen Einzelreizen zusammengesetzten Ichs. Weniger geht es um den Ausdruck erlebter Geschichten als um die Modulation von populären Mythen – sei es die mimetische Anpassung der Sprache durch repetitive, stakkatohaft hintereinander geschaltete Strukturen an den Gegenstand des Interesses Techno bei Goetz und Neumeister, seien es verschachtelte Satzkaskaden und die Lust an der Übertreibung bei Meinecke, der damit komplexe Theoriegebilde wie das der Gender Studies und die Unmöglichkeit eindeutiger Sinnzuschreibungen formal zum Ausdruck bringt. Stärker noch als Brinkmann kommt es dieser Variante der Popliteratur weniger darauf an, was beschrieben wird, als darauf, wie es beschrieben wird. Affirmation bedeutet hier nicht einfach Bejahung, sondern auch ein modernes, avantgardistisches Konzept, durch möglichst differenzierte Darstellung dem Dargestellten an seiner Oberfläche die eigenen Widersprüche vorzuführen und so zu einer ganz anderen Form der Kritik zu gelangen.

Wenn Moralisten mit ihrer Kritik an der Popliteratur davon ausgehen, dass nur der zu schreiben ein Recht hat, der etwas zu erzählen hat und also etwas Interessantes, Substanzielles erlebt haben muss, dann hauen sie voll daneben. Dann knüpfen sie an ein antimodernes und hochideologisches Konzept von Realismus an, wie es sonst nur noch von konservativen Literaturkritikern propagiert wird.

Kracht, Stuckrad-Barre und Co. aufgrund ihrer Saturiertheit eine affirmative Haltung vorzuwerfen, trifft nicht den Punkt. Es sind eher ihr formal langweiliger Ansatz, ihr begrenzter Blickwinkel und ihr oft gradliniger Plot, die ihre Literatur nicht vieldeutig genug machen.

Vielleicht gibt es noch den einen oder anderen, der sich an die so genannte Social Beat Literatur erinnert, die um 1993 herum vor allem in Berlin schwer angesagt war, dennoch aber von Johannes Ullmaier als Vorläufer und eigentliche Anwärter auf den Begriff der Popliteratur gesehen wird. Der Herausgeber der Zeitschrift Störer und Veranstalter diverser Social-Beat-Festivals Jörg André Dahlmeyer, der sich selbst als erwerbloser Schreibender in einem Berliner Hinterhof beschrieb, schrie damals auf bierseligen Leseveranstaltungen Gedichte über das Saufen, Hungern und Tage im Irrenhaus in die Welt. Inspiriert von Beat, Borroughs und Bukowsi verfasste er sehr wilde Verse: „In meiner Bude / ist es so kalt / daß mir fast / der Arsch abfriert / und ich denke / an die Leichenberge in Tschetschenien / konserviert und geruchsneutral / blaustichgefräst / in eurer wohltemperierten Stube / vor einer prallen Mahlzeit“. Wahrscheinlich kommt genau das dabei heraus, wenn man einer formal stromlinienförmigen Popliteratur auch noch „Authentizität“ und „Engagement“ beimischt.

Pop und Literatur: Panel am Donnerstag, 16. 8., ab 15.30 Uhr, Sektion 1