Steilvorlage für die neue Auto-Röhre

Über 16 Milliarden Mark investiert die Schweiz in einen neuen Eisenbahntunnel, um Transitgüter auf die Schiene zu bringen. Doch der Gotthard-Unfall beflügelt die Lobby einer zweiten Straßen-Röhre. Es droht eine Investitionsruine

BASEL taz ■ Das Feuer im Gotthard kommt wie gerufen für jene, deren Klientel für das Desaster verantwortlich ist: Schon am Tag der Katastrophe erneuerte die Lastwagenlobby ihre Forderung, neben der bestehenden, jetzt auf Wochen hinaus blockierten Auto-Röhre ein zweites Loch in den Gotthard zu treiben. Nur so sei es möglich, richtungsgetrennte Fahrbahnen anzubieten und damit die Sicherheit im Tunnel massiv zu verbessern, lautet ihre Argumentation. Unisono werfen Straßenverkehrsverband und Automobil-Club dem Verkehrsminister Moritz Leuenberger vor, das Unglück sei die Quittung dafür, dass die Regierung die ständigen Sommerstaus am Gotthard untätig hinnehme.

Die Verkehrsverbände wittern Morgenluft. Eine zweite Gotthard-Röhre ist derzeit gleich durch zwei Initiativen in der parlamentarischen Debatte und hat gute Chancen, demnächst in der Volksvertretung eine Mehrheit zu finden. Fällt der Termin der notwendigen Volksabstimmung in die Sommerzeit, wo kilometerlange Staus die Ferienkarawane in den Süden blockieren, ist auch eine Zustimmung an der Urne absehbar.

Richtungsgetrennte Spuren sind jedoch nur ein Element, um Autotunnel sicherer zu machen. Sieben der acht größeren Tunnelunfälle der letzten Jahre waren Auffahrunfälle oder Unvorsichtigkeiten, wie brennende Zigarettenstummel. Doch Lkw sind in Tunneln aus mehreren Gründen eine heikle Kundschaft. Gegenüber Pkw führen sie ein Vielfaches an Treibstoff mit sich, der im Unglücksfall das Feuer nährt. Ebenfalls eine potenzielle Gefahr bedeutet die Ladung. „Es brauchen keineswegs Chemikalien zu sein, auch gewöhnliche Güter können enorme Hitze entwickeln“, so Adrian Schmid vom Verkehrsclub der Schweiz (VCS). Um diesen Gefahren etwas entgegenzusetzen, fordert der VCS seit längerem das verbindliche Mitführen von Hand-Feuerlöschgeräten sowie mittelfristig automatischer Brandschutzanlagen, die auch bei verklemmten Führerkabinen tätig werden. Nützlich wären auch elektronische Wagenabstandhalter, die akustisch melden, wenn der Mindestabstand unterschritten wird. Immerhin 180 Schweizer Tunnel sind länger als 600 Meter, die in punkto Brandschutz als heikel betrachtet werden.

Gleichzeitig wächst die Lastwagenlawine ungehindert weiter. Schätzungen prognostizieren etwa eine Zunahme von 70 Prozent in den nächsten 20 Jahren. Schon jetzt machen Lkw 20 Prozent des Gotthard-Verkehrs aus, vor zehn Jahren waren es noch halb so viel. Eine Zunahme auf ein Drittel wie beim Montblanc ist wahrscheinlich. „Ziel muss es sein, den heutigen Anteil der Camions stark zu reduzieren, denn Lastwagen sind stark überproportional in tödliche Unfälle verwickelt“, so VCS-Sprecher Adrian Schmid.

Wenn jetzt aber der Druck für eine zweite Auto-Röhre wächst und diese möglicherweise eine Mehrheit findet, untergräbt dies das bisher größte Investitionsprojekt der Eidgenossenschaft: Umgerechnet 16,5 Milliarden Mark bewilligten 1998 die Stimmberechtigten für das Projekt „Neue Alpentransversale“ (NEAT). Denn um den die Alpen überquerenden Güterverkehr auf die Bahn zu bringen, wie dies eine zuvor angenommene Volksinitiative verlangte, braucht es größere Kapazitäten für den Bahngüterverkehr. Deshalb wird seit 1999 an zwei zusätzlichen Bahnpassagen gebohrt. Bis 2007 soll auf der Achse Lötschberg–Simplon ein 34 Kilometer, 2012 auf der Achse Gotthard ein 57 Kilometer langer Bahntunnel eröffnet werden. Besonders der richtungsgetrennte neue Gotthard-Basistunnel wird neben mehr Personenverkehr vor allem auch den auf die Schienen verlagerten Brummis dienen, deren Transitzahl von heute über 1,3 Millionen halbiert werden soll. Doch die Auto- und Lkw-Lobby mag nicht warten und fordert Kapazitäten auf Vorrat. Was sie dabei tunlichst verschweigt: Ihr Projekt benötigt vom Volksentscheid bis zur Inbetriebnahme zwischen 10 und 20 Jahre. Just dann also, wenn die NEAT voll wirksam geworden ist, wäre der neue Straßenkorridor passierbar, würde zusätzlichen Verkehr anziehen – und damit die milliardenschweren Investitionen in die Bahn zumindest teilweise in Frage stellen.

PIETER POLDERVAART