Das Skandalon der gestohlenen Zeit

Aufzeichnungen aus Pflegehäusern (1): Die Missstände sind schier unvorstellbar, aber sie sind das übliche Normale, der Alltag

■ Alter bedeutet in unserer Gesellschaft nicht ein Jetzt-erst, das Fülle und Ertrag meint, sondern ein Nicht-mehr, ein Manko, ein Makel, ein Schicksal, eine Endstation. Unsere Serie beschäftigt sich damit, wie daraus die massenhafte Produktion von unnötigem Leiden wird.

von PETER FUCHS
und JÖRG MUSSMANN

Es gibt Dinge, die tut man einfach nicht, sagen die Leute, aber weil diese Maxime nicht sehr tiefenscharf ist, wundert sich niemand darüber, dass die Dinge, die man nicht tut, ganz bestimmt geschehen. Deswegen ist es manchmal erforderlich, das hervorzuheben, was ganz bestimmt niemand tun darf, aber dennoch getan wird, obwohl es überhaupt nicht getan werden müsste. Davon soll diese Serie handeln.

Sie beschäftigt sich mit der massenweisen Produktion nicht notwendiger Leiden in einer Hochzivilisation. Sie weigert sich, diese Produktion als Unabwendbarkeit, als Verhängnis aufzufassen, sie sieht in ihr stattdessen ein Ärgernis, das keinesfalls verschämt verschwiegen werden darf. Die Rede ist von alten und pflegebedürftigen Menschen, die in Einrichtungen für alte und pflegebedürftige Menschen leben. Es geht dabei um diese Einrichtungen, um die Installierung der Kulissen und die Beschaffenheit der backstages, um die Leute, die das dort mögliche Leben inszenieren, und um die Leute, die die Staffage dieser Inszenierung bilden, um Menschen, die in einer Hoch-Zeit der Existenz um die Möglichkeit gebracht werden, diese Lebenszeit (die keineswegs eine Sterbezeit ist und nur sehr unzureichend als Randlage vor dem Tode beschrieben werden kann) auszuschöpfen.

Wir wollen nicht davon abstehen, zu erklären und zu zeigen, dass es schier unvorstellbare Missstände gibt in der Gestaltung, in den Arrangements dieser weitgehend fremdbestimmten Lebenszeit, so unvorstellbar, dass nicht einmal im Zentrum stehen kann, Menschenwürde einzuklagen, sondern nur und wiederum: an all die Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Menschen zu erinnern, die der Erwähnung eigentlich nicht bedürften und für die Haupt- und Krönungswörter wie Menschenwürde einfach zu viel des Guten, zu viel des Pathos sind. Wie immer ist es auch hier so, dass die Ausnahmen die Regeln bestätigen, vor allem, wenn Geld in rauhen Mengen zur Verfügung steht und dazu verhilft, sich in exklusive Alterseinrichtungen einzukaufen, einzumieten, oder dann, wenn es Untergruppierungen von Wohlfahrtskonzernen gelingt, die Wohlfahrt der Klientel gegen neuerdings laufend (und ziemlich sinnlos) geltend gemachte ökonomische Zwänge befristet zu stabilisieren, und natürlich auch dann, wenn die Phase der Pflegebedürftigkeit in familialen Kontexten durchlebt werden kann, die sich durch die Zahlung/Nichtzahlung von Pflegegeldern nicht beeindrucken lassen müssen.

Uns interessiert jedoch nicht die Ausnahme, sondern das, was häufig geschieht, also der Alltag, das Übliche, auch wenn, wie wir voraussehen, nicht leicht geglaubt werden kann, dass wir über einen Alltag reden und nicht über faschistoide Exzesse, über eine Lebenswelt, wie sie um die Ecke im Pflegeheim vorkommen kann, und wenn dort nicht, eine Stadt weiter. Unsere Beispiele sind nicht die Skandale, sondern: das Normale. Das Skandalon ist, dass dies Normale geschieht, jetzt, hier, zurzeit, in der dies hier geschrieben, in der es gelesen wird. Und selbst, wenn es nur vereinzelt geschähe, nur da und dort, würden wir den Lärm, den wir produzieren, als gerechtfertigt ansehen – es gibt Dinge, die tut man einfach nicht.

Natürlich steht hier wie immer eine Theorie im Hintergrund, die sich von der Annahme absetzt, das Alter sei ein Schicksal, eine Endstation, ein Ausrangiertwerden, ein biologisches Geschick, ein Seinszustand. Wir setzen an die Stelle dieser kognitiven Haltlosigkeiten (und niemanden wird es verwundern) den Beobachter ein, der mit der Unterscheidung von Jung/Alt arbeitet. Wenn wir ihn beobachten, zeigt sich, dass er eine konditionierte Unterscheidung benutzt, in der Sprache der Systemtheorie heißt das: ein Zeitschema, das zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht unterscheidet. Das klingt kompliziert, soll aber nur bedeuten, dass in unseren hoch zivilisierten Sozialkontexten immer dann auf Alter zugerechnet wird, wenn sich ein Nicht-mehr formulieren lässt: Stefanie Graf ist zu alt für Leistungstennis, ein 15-jähriges Mädchen ist zu alt, um noch virtuoses Klavierspielen zu lernen, ein 18-jähriger Mann zu alt, um Schlangenmensch zu werden, Claudia Schiffer zu alt, um auf dem Catwalk Mode für Kids vorzuführen . . .

Alter, diese soziale Zurechnung, kondensiert, wenn man so will, an der Übersummierung dieses Nicht-mehr. Immer mehr wird als Nicht-mehr behandelt, und in genau dieser Form überzeugen die einschlägigen Strategien, die das Alter über diese Negation (diese Ab- und Wegnahme) bestimmen, und daran ändert sich nichts dadurch, dass die Industrie die kaufkräftigen alten Leute „verjugendlicht“. Im Gegenteil: Suggeriert wird von Doppelherz über Aktivkapseln bis hin zu Knoblauchpillen, dass diejenigen, die dem Verdikt des Nicht-mehr unterliegen, noch diese oder jene Zone eines Noch-nicht durchlaufen oder aufrechterhalten könnten – wenn auch befristet, wie sich von selbst versteht, weil abhängig von Kaufkraft und Kauflust.

Man könnte demonstrieren (es ist fast zu leicht), dass diese Strategie anders möglich wäre und in anderen Kulturen anders möglich war. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass das Alter auch begriffen werden kann als ein Jetzt-erst, als Fülle und Ertrag. Gebrechlichkeit lässt sich leichter ertragen, wenn sie nicht zum Makel wird. Vergesslichkeit etwa ist nur dann ein Problem, wenn man nicht mitsieht, dass eben mit ihr Aufmerksamkeit für Anderes, für Unvergessbares einhergehen kann, für das der Tag, die nächste Minute nicht so sehr entscheidend ist.

Aber wir schenken uns diese Überlegungen und halten nur fest, dass diese Anwendung des Schemas Alter (die Verkrustung im Nicht-mehr) zu Strukturen und Prozessen führt, die unter dem Titel Wegnahme oder Beraubung verbucht werden können – bis hin zur Beraubung um das Selbstverständliche. Die Artikel dieser Serie setzen folgerichtig an den Selbstbeschreibungen und Leitbildern der entsprechenden Einrichtungen an und prüfen, was die Gaben, die in diesen Texten verheißen werden, mit der Realität, die sie herstellen wollen, zu tun haben.

Leitbilder, Selbstkonzepte, Selbstbeschreibungen sind nämlich (wie auch in dieser Zeitung schon nachzulesen war) hoch kuriose Angelegenheiten. Vom Supermarkt bis zur Werkstatt für Behinderte, von Hochschulen bis hin zu Pflegeeinrichtungen werden Texte, Aushängetafeln, Hochglanzbroschüren erzeugt, die die eigene (gegenwärtige oder zukünftige) Vortrefflichkeit heraufbeschwören.

Das hat, wie sich schnell zeigen ließe, wenig zu tun mit einer allgemeinen Intention, die Welt zu verbessern, sondern eher damit, dass all diese Einrichtungen (und eben jetzt auch: die so genannten sozialen Institutionen) in die Situation marktwirtschaftlichen Wettbewerbs eingerückt sind und deshalb rhetorische Überbietungsleistungen produzieren, wie man sie aus der Werbung kennt. Es geht um Anpreisungen, um die Qualität der Repräsentation, von der aus die Beobachter durchschließen sollen auf eine Realität, die annäherungsweise den Verheißungen der Leitbild- und Selbstkonzept-Ingenieure entspricht. Dass sie es nicht im vollen Umfang tut, wird leicht konzediert. Nobody is perfect. Aber dass diese Realität sich mitunter als krasses Gegenteil der fiktionalen Realität der Leitbilder und Selbstkonzepte ertappen lässt, das zu glauben fällt schwer. So viel an Chuzpe, ein solches Maß an Selbstverblendung traut man sozial so schnell niemandem zu.

Eine unserer Hoffnungen bei dem lose geführten Versuch, dies doch zuzutrauen, ist, dass es gelingt, die Wut wachsen zu machen, die der alten Leute, wenn man ihnen gestattet, sie zu artikulieren, die der Angehörigen, wenn sie denn darauf achten, wie ihre Mütter und Väter leben, die der Pfleger und Pflegerinnen, von denen wir nach vielen Gesprächen wissen, wie liebend gern sie das, was sie tun müssen, anders und besser täten, und schließlich: allgemeine Wut in einer Demokratie, die dies duldet, weil sie das Monster der Ökonomie ganz und gar in ihr Herz geschlossen hat.