"Macht doch jeder so"

■ Allein im vergangenen Jahr wurden 9.043 Kinder und 15.733 Jugendliche von der Polizei als Tatverdächtige ermittelt / Auch vor Raubmorden wird nicht haltgemacht

Mike ist erst 15, aber kein unbeschriebenes Blatt. Vor zwei Jahren knackte er das erste Auto und fuhr damit durch die Stadt, bis der Tank leer war. Einmal wurde er erwischt und von einem Jugendrichter verwarnt, erzählt er im Pankower Jugendclub „Grabbe“. Mitunter habe er auch Autoradios gestohlen und auf einem Flohmarkt verkauft. Das Geld investierte er meist in teure Klamotten.

Allein im vergangenen Jahr wurden in Berlin 9.043 Kinder und 15.733 Jugendliche von der Polizei als Tatverdächtige ermittelt. Immer häufiger sind Schüler bewaffnet, enden triviale Auseinandersetzungen blutig. „Brutalität ist nicht zählbar, nur an den Verletzten ist es zu sehen“, so Christina Burck von der polizeilichen Arbeitsgruppe Jugendgewalt. Vergangenen Februar erschlugen zwei 15- und 16jährige einen Obdachlosen, berichtet Konrad Zehnpfenning von der Mordkommission. Die beiden hätten dem 46jährigen seine Habe stehlen wollen. Als er sich mit einer Gaspistole wehren wollte, brachten sie ihn um.

Mikes Opfer sind meist Vietnamesen, die auf zahlreichen Straßen in Berlin unverzollte Zigaretten verkaufen. „Fittis rauben“ nennt es sein Kumpel Ralf. Zusammen gehen sie auf einen der Händler zu, entreißen ihm die Plastiktüte mit einigen Stangen Zigaretten. Verkauft wird das Diebesgut zumeist wieder an Vietnamesen. Weil der illegale Handel verboten ist, geht keines der Opfer zur Polizei.

Auf der Tanzfläche des Klubs „Grabbe“ in Pankow dröhnt Techno-Musik aus den Boxen. Etwa 50 bis 60 Jugendliche sind in dem Klub. Die Älteren, 17 oder 18 Jahre alt, teilweise glatzköpfig, werden von den Jüngeren mit Handschlag begrüßt. Fast jeder von ihnen ist schon mal Opfer von Gewalt geworden oder hat selbst Straftaten verübt. Mike zeigt auf eine Schnittwunde an seiner Hand. Vergangene Woche habe jemand versucht, seine Jacke zu klauen – ein Einzelstück in Deutschland, von dem in Amerika nur 100 Stück hergestellt worden seien. Der Unbekannte kam ihm auf der Straße entgegen. Als Mike sich wehrte, zerschlug der andere eine Flasche, griff ihn damit an. Den Schlag konnte Mike noch mit der Hand abwehren, dann ist er „geflitzt“ – weggelaufen.

Sozialdarwinismus, Ellbogenmentalität und apathisches Warten auf materielle Hilfe von den Eltern kennzeichnen viele Jugendliche, so Wolfgang Zirk von der Arbeitsgruppe Jugendgewalt in seiner kürzlich vorgestellten Studie „Underdogs“. Wer nicht spezielle, sehr teure Turnschuhe, Hosen und Jacken trägt, gilt in vielen Szenen als ein Niemand. Während die Banden früher auch politische Gründe für ihr Treiben vorgaben, steht heute das Materielle im Vordergrund. Die „Kids“ organisieren sich in kleinen kriminellen Vereinigungen, mit denen sie sich an anderen bereichern wollen.

Zirk sieht die Ursache für die Kriminalität der Kids auch bei den Erwachsenen. Wenn Eltern sich rühmen, das Finanzamt oder die Versicherung zu überlisten, könnten sie nicht erwarten, daß ihre Kinder sich an die Spielregeln halten. Auch Mike hat keine Skrupel, wenn er Autos aufbricht oder Vietnamesen ausraubt. „Kann doch jeder so machen“, sagt er. Dann überlegt er einen kurzen Augenblick und korrigiert sich: „Macht doch jeder so.“ Rochus Görgen (dpa)