Eduard Schewardnadse über den Mauerfall: "Wir waren nicht unvorbereitet"

"Im schlimmsten Fall hätte die Öffnung der Mauer in einem Dritten Weltkrieg enden können." Der sowjetische Exaußenminister Schewardnadse erinnert sich an den 9. November 1989.

Eduard Schewardnadse war sowjetischer Außenminister als in Berlin der "Wind of Change" wehte. Bild: dpa

Honecker, Genscher, Baker, Gorbatschow: Eduard Schewardnadse erinnert sich an den 9. November 1989 und das, was danach kam

taz: Herr Schewardnadse, am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Sie waren damals Außenminister der Sowjetunion. Wo erreichte Sie diese Nachricht und was ging Ihnen in dem Moment durch den Kopf?

Eduard Schewardnadse: Unsere Botschaft und der Geheimdienst meldeten seit Monaten jede kleine Bewegung in der DDR. Wir waren über die Vorgänge in Berlin recht gut im Bilde. Die Informationen gingen direkt an das Außenministerium, und ich unterrichtete dann Michail Gorbatschow.

Versteckt in den Hügeln über Tiflis liegt das Anwesen. Umgeben von einer unüberwindlichen Mauer und einem Stahltor, wie sie einst zu Tausenden militärische Einrichtungen der sowjetischen Armee schützten. Nur der rote Stern fehlt. Stattdessen ziert ein kaukasisches Sonnensymbol die Schleuse. Es ist die Residenz Eduard Schewardnadses (81), des letzten Außenministers der Sowjetunion und Expräsidenten Georgiens. Der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, holte den Georgier 1985 aus Tiflis ins Politbüro der Partei und machte ihn zum Außenminister. "Glasnost" und "Perestroika" waren die Schlagworte, mit denen Gorbatschow das siechende Sowjetsystem reformieren wollte. Schewardnadse sollte in der Außenpolitik gegenüber dem Westen für Entspannung sorgen. Hatte sein Vorgänger Andrej Gromyko auf der Weltbühne noch den Spitznamen "Mister Njet", so erhielt der freundliche Georgier zu Hause bald den wenig schmeichelhaften Beinamen "Mister Da". Den Hardlinern in der KPdSU ging die Entspannungspolitik zu weit. Mit dem Gipfeltreffen zwischen US-Präsident Ronald Reagan und KP-Chef Michail Gorbatschow 1986 in Reykjavík wurde ein Durchbruch zu einschneidenden Abrüstungsvereinbarungen erzielt. Schewardnadse war maßgeblich beteiligt. 1989 organisierte er den Abzug der russischen Truppen aus Afghanistan. Als sich im selben Jahr im ehemaligen Ostblock die Völker gegen die kommunistischen Regime und die Bevormundung durch Moskau erhoben, griff die Sowjetunion nicht ein. "Wir wollten die Interessen der osteuropäischen Staaten mehr berücksichtigen", sagt Schewardnadse im Rückblick. Dass dies zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums führen würde, schien den Reformern anfangs nicht klar gewesen zu sein. So hatte die Sowjetunion zunächst auch kein Konzept, wie sie nach dem Mauerfall mit der deutschen Frage umgehen sollte. 1990 handelte Schewardnadse als Vertreter der Sowjetunion mit den drei anderen

ehemaligen Besatzungsmächten Deutschlands das Zwei-plus-Vier-Abkommen aus. (khd)

Aus den Protokollen der sowjetischen Botschaft geht hervor, dass die DDR-Genossen verzweifelt versuchten, aus Moskau Verhaltensanweisungen zu erhalten. Durften sie die Grenze nun öffnen, um Druck aus dem Kessel zu lassen, oder nicht? Moskau ließ sich aber Zeit. Die UdSSR feierte rund um den 7. November den Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution …

Nein, die Feierlichkeiten verliefen wie jedes Jahr, nichts Außergewöhnliches passierte. Die Sowjetführung stand auf der Tribüne des Leninmausoleums auf dem Roten Platz und nahm die Parade ab. Wir waren ja nicht unvorbereitet. Seit September machten wir uns Gedanken, wie wir mit den Folgen der wachsenden Unruhe in der DDR umgehen sollten. Ich hatte damals schon keinen Zweifel mehr, dass die Mauer früher oder später fallen würde.

Die politische Führung der UdSSR war von den Ereignissen also nicht überrascht?

Wir hatten Vorahnungen und sahen einiges auf uns zukommen.

Sie sprachen schon 1986 in einem informellen Zirkel davon, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands wohl unausweichlich sei. Was machte Sie da so sicher?

Es war wohl Intuition und die Fähigkeit zum realistischen Denken. Ich äußerte mich als Privatmann, nicht als ein Vertreter der sowjetischen Führung.

Kannten Sie den DDR-Staatsratschef Erich Honecker persönlich?

Ja. Wir waren uns in den letzten Tagen in Berlin begegnet. Er stand in seinem Büro und schaltete den Fernseher an: Ein Bericht aus Bonn lief. Der Beitrag ließ kein gutes Haar an ihm. Der Dolmetscher übersetzte für mich. Ich dachte bei mir: Mein Gott, wie hält der das nur aus? Honecker wollte mich überzeugen, dass ein Zusammenleben mit den Westdeutschen einfach nicht möglich sei. Dann war das Gespräch zu Ende.

Nach dem Mauerfall flogen Sie mit Michail Gorbatschow zusammen nach Berlin. War die Lage so brenzlig? Drohten die Militärs einzugreifen?

Die Gefahr war real. Vom Geheimdienst aus Berlin erhielt ich laufend Informationen. Die Stimmung in einigen Einheiten war beunruhigend. Ich weihte Gorbatschow ein, und wir beschlossen daraufhin, gemeinsam zu fliegen. Das Politbüro der KPdSU war zwar der Ansicht, es reiche, wenn ich allein ginge, Anweisungen des Außenministers hätten die Militärs aber ignorieren können. Gorbatschow war als Generalsekretär der KPdSU auch noch Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte, und dem gehorchten sie. Deshalb flogen wir beide.

Haben Sie dadurch Schlimmeres verhüten können?

Wahrscheinlich, es hätte auch anders ausgehen können. In der DDR stand eine halbe Million bis an die Zähne bewaffneter sowjetischer Soldaten. Mit dem Fall der Mauer spitzte sich die Gefahr noch zu.

Ein selbstherrlicher Kommandeur hätte eine Katastrophe auslösen können …

Konkrete Hinweise hatten wir nicht. Uns war aber bewusst, dass eine solche Gefahr bestand.

Was wären die Folgen gewesen?

Denkbar waren mehrere Szenarien. Uns war klar, dass die Deutschen harten Widerstand leisten würden. Im schlimmsten Fall hätte die Öffnung der Mauer in einem Dritten Weltkrieg enden können. Gorbatschow und ich befürchteten das zumindest.

Sah Gorbatschow die Unausweichlichkeit der Wiedervereinigung ähnlich wie Sie?

Gorbatschow hat sich zur Einigung anfangs nie direkt geäußert. Er ist der Frage immer ausgewichen, hat nicht Ja und nicht Nein gesagt. Daraus schloss ich aber, dass er innerlich auf die Wiedervereinigung vorbereitet war. Seltsam, unter vier Augen haben wir nie darüber gesprochen. Auch in den Sitzungen des Politbüros sprach er sich nicht kategorisch gegen die Einigung aus. Er schwieg meistens.

Warum war Gorbatschow so vorsichtig?

Im Politbüro saßen Leute, die Deutschland auf keinen Fall preisgeben wollten. Der Widerstand war erheblich. 20 Millionen Menschen seien für die Befreiung Deutschlands gefallen und jetzt würden wir es einfach so aufgeben, meinten die Gegner. Gorbatschow lavierte ja nicht zufällig so, wenn er nach der Vereinigung gefragt wurde. Nach dem Fall der Mauer war es einfach nicht mehr möglich, den Einheitsprozess aufzuhalten. Der Widerstand in der sowjetischen Führung machte sich später dann auch an den Bedingungen fest, unter denen die Einheit stattfinden sollte. Was würde mit dem Verteidigungsbündnis des Warschauer Pakts geschehen? Konnte man es zulassen, dass auch das neue Deutschland in der Nato bleibt? Natürlich regte sich da Widerstand. Die Führung war strikt dagegen. Viele hassten mich deswegen und sagten offen: Schewardnadse hat uns verkauft.

Schließlich stimmte die Führung dann doch der Wiedervereinigung zu.

Es war im Februar 1990 auf der "Open Skies"-Konferenz der Außenminister des Warschauer Pakts und der Nato im kanadischen Ottawa. James Baker [damaliger US-Außenminister, d. Red.] saß mir zunächst gegenüber, dann setzte er sich neben mich. Wir waren damals schon befreundet. "Eduard, was meinst du, ist die Zeit nicht gekommen, über eine deutsche Wiedervereinigung nachzudenken?", fragte er. "Wir denken schon nach, aber das muss sehr überlegt angegangen werden. Was meint Genscher?", fragte ich. Genscher sei einverstanden, meinte Baker. England und Frankreich seien noch dagegen, aber die würde man schon überzeugen. "Das Wichtigste ist eure Position, was meint Gorbatschow?" Wenn die Sowjetunion zustimme, könne der Zwei-plus-Vier-Prozess [beide deutsche Staaten plus USA, UdSSR, England und Frankreich, d. Red.] beginnen. Ich verließ den Raum und rief Gorbatschow an. Zunächst erklärte ich ihm den Zwei-plus-Vier-Mechanismus: "Was meinst du dazu?" Er fragte zurück: "Eduard, was denkst du?" Ich hielte die Zeit für gekommen, sich auf die Einheit einzulassen, sagte ich. Gorbatschow dachte zwei, drei Minuten nach und meinte dann: "Gut, dass die Außenminister diese Frage angehen. Eduard, früher oder später muss eine Entscheidung her." Wenn das Format der Verhandlungen praktikabel sei, hätte er nichts dagegen. Der Weg für den Auftakt der Zwei-plus-Vier-Gespräche war geebnet.

Wie war Ihr Verhältnis zu James Baker? Er schenkte Ihnen mal Gummistiefel, haben Sie die noch?

Ja. Ich war bei ihm zu Besuch in Wyoming, und er wollte fischen gehen. Nun bin ich kein leidenschaftlicher Angler und habe auch nichts gefangen. Aber er zog auch nur drei kleine Fische aus dem Wasser und warf sie gleich wieder in den See. Die Stiefel sollte ich dann behalten.

Was versetzte der Sowjetunion Ende der 1980er den Todesstoß? Spielten die Pläne des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, mit einem SDI-Programm die Systemkonkurrenz auf den Weltraum auszuweiten, eine Rolle?

Anfangs zweifelten unsere Wissenschaftler an der Machbarkeit eines kosmisch gestützten Systems. Dann sollte es plötzlich aber doch möglich sein. Voraussetzung war allerdings, dass die Wirtschaft dafür die Grundlagen lieferte. Wir hätten dann für den Bau zwanzig Jahre gebraucht. Die USA hingegen nur zwölf Jahre. Gorbatschow und ich versuchten daraufhin, in die schwierigen Beziehungen zu den USA etwas Entspannung hineinzubringen. Reagan hasste die Sowjetunion. Das erste Treffen mit ihm war auch sehr schwierig. Danach wurde es einfacher. Er war ein begnadeter Anekdotenerzähler. Siebenmal sind wir einander begegnet, und kein einziges Mal hat er denselben Witz erzählt. Als ich an der Reihe war, gab ich auch mal einen zum Besten: "Gott trifft auf Reagan und fragt ihn: ,Wie geht's?' Reagan: ,5 Millionen Arbeitsplätze habe ich geschaffen.' Dann fragt Gott Gorbatschow: ,Wie läuft die Perestroika bei dir?' ,Dem Volk geht es schon besser', sagt der. Schließlich ist Margaret Thatcher an der Reihe: ,Na, meine Tochter, und wie sieht es bei dir aus?' Thatcher: ,Also, erstens bin ich nicht deine Tochter, und zweitens sitzt du auf meinem Platz.' " Aber Spaß beiseite: Ein entscheidender Grund, der den Zerfall am Ende beschleunigte, war das zerrüttete Verhältnis zwischen Gorbatschow und dem späteren russischen Präsidenten Boris Jelzin.

Konnten Sie sich das Ende der UdSSR vorstellen, als Sie Außenminister wurden?

Ich wollte den Posten nicht, weil ich keine Ahnung von Diplomatie hatte. Gorbatschow bestand darauf, er brauchte einen Politiker, der den Wandel - die Perestroika - vertreten konnte. Ich dachte: Würde mir, einem Georgier, in der Welt nach Stalin noch jemand vertrauen? Jede Entscheidung würde doch in Zweifel gezogen. Auch die Russen, fürchtete ich, könnten mir unterstellen, dass mir Russlands Schicksal egal sei. Ich stimmte dann doch zu. Als Angehöriger einer nationalen Minderheit war ich vielleicht etwas kritischer und sensibler gegenüber dem, was im Land vor sich ging. Dass das Imperium eines Tages auseinanderbrechen würde, war mir bewusst. Nur dachte ich, in zehn, zwölf Jahren vielleicht. Da sollte ich mich gewaltig täuschen. Ganz vier Jahre dauerte es noch.

Haben Sie noch Kontakt zu Michail Gorbatschow?

In den vergangenen Jahren nur selten.

Können Sie es Gorbatschow verzeihen, dass er allein den Friedensnobelpreis erhielt?

Ich war nicht eingeschnappt. Hätte Gorbatschow es nur gewollt, wären wir beide ausgezeichnet worden. Nicht der erste Nobelpreis wäre an zwei vergeben worden. Aber nein, beleidigt bin ich nicht. Ich habe so viele Auszeichnungen erhalten, allein in den USA sieben Ehrendoktorwürden, darunter die von Yale.

es reicht …

Es reicht … wirklich.

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