Wochenendschwerpunkt: 10 Jahre Brandbrief Rütlischule: Die Kehrseite von Rütli

Innerhalb von zehn Jahren wurde aus der einstigen Skandalschule ein Vorzeigeprojekt. Das verändert auch den Kiez.

Die Hauptschule gibt‘s nicht mehr und auch keine Polizei mehr vor der Tür: die alte Rütlischule. Foto: AP

Die Bilder schafften es bis in die Tagesschau: halbwüchsige Jungen, die Stühle und Papierkörbe aus den Fenstern einer Schule werfen, Reportern den Stinkefinger zeigen, ausrasierte Nacken unter schwarzen Basecaps, breite Schultern, breites Grinsen. Als vor zehn Jahren ein Brandbrief von Lehrkräften der Rütlischule in die Medien gelangte, stand die damalige Hauptschule wochenlang im Fokus der Öffentlichkeit. Selbst im Bundestag war Rütli im April 2006 Thema einer Aktuellen Stunde, Berlins damaliger Bildungssenator Klaus Böger (SPD) musste Rede und Antwort stehen.

Von steigender Gewaltbereitschaft, Aggressivität und „Ignoranz uns Erwachsenen gegenüber“ hatten die LehrerInnen geschrieben. Türen würden eingetreten, Knallkörper gezündet. Nur wenige SchülerInnen würden überhaupt Unterrichtsmaterial mitbringen. „Unsere Bemühungen, die Einhaltung der Regeln durchzusetzen, treffen auf starken Widerstand.“ Manche Lehrkräfte gingen nur noch mit Handy in bestimmte Klassen, „damit sie über Funk Hilfe holen können“. 83,2 Prozent der RütlischülerInnen seien nicht deutscher Herkunft, hieß es in dem Brandbrief auch: Der größte Teil davon mit 34,9 Prozent mit „arabischem Migrationshintergrund“.

Das alles passte perfekt zu dem Bild, das von Neukölln längst herrschte. „Multikulti ist gescheitert“, hatte Heinz Buschkowsky (SPD), damals Bürgermeister des Bezirks, schon 2004 verkündet: Vor allem muslimische EinwandererInnen lebten lieber in Parallelgesellschaften, als sich zu integrieren. Nur drei Wochen vor dem Rütli-Skandal war Detlev Bucks Film „Knallhart Neukölln“ in die Kinos gekommen – „Neukölln ist härter“, titelte damals der Tagesspiegel, der den Film von „Jugendlichen aus dem Kiez“ hatte bewerten lassen.

Wer dagegen heute durch den Kiez um die Rütlischule spaziert, kann das alles kaum mehr glauben. Nobel ausgebaute Dachgeschosse zieren renovierte Altbauten, kleine Boutiquen bieten Mode örtlicher DesignerInnen neben duftenden Kaffeeröstereien an. Die Gäste der arabischen Frühstückslokale auf der Sonnenallee sprechen Spanisch, Englisch, Hebräisch. Neukölln ist fame. Die Mieten stiegen seit 2011 von sechs Euro pro Quadratmeter auf über zehn Euro.

Natürlich war es nicht allein der Skandal um die Rütlischule, der diese Entwicklung auslöste. Aber er war ein wichtiger Teil davon. Denn die Reaktion auf das Scheitern der Schule war ungewöhnlich: Die von Buschkowsky gern geschmähten Gutmenschen übernahmen. Statt mit Druck und Repression auf deren renitente SchülerInnen zu reagieren, machten Bezirk und Senat sie zu einem Labor, in dem plötzlich alles ging, was andernorts an bürokratischen Vorschriften oder Geldmangel scheiterte. Räume wurden umgestaltet, Lehrer ausgewechselt, vielfältige Projekte mit externen Partnern gemacht, Eltern, Nachbarn, der Kiez und das Quartiersmanagement in die Schulentwicklung einbezogen. Das „Campus Rütli“ wurde ein Vorzeigeprojekt, zu dem heute PädagogInnen aus der ganzen Welt Bildungsreisen machen.

Das dies den Kiez verändert, dass diejenigen, die vom Schulprojekt profitieren sollten, der ausgelösten Verdrängung zum Opfer fallen, ist das aktuelle Problem, das Neukölln zu lösen hat.

Mehr über die Rütlischule und ihren Kiez lesen Sie auf den Berlin-Seiten der gedruckten Wochenend-taz.

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