Martin Reichert
Herbstzeitlos
: Weihnacht in Neukölln

Foto: Jonas Maron

Dieses Jahr haben wir den Vogel abgeschossen mit unserer Balkan-Bling-Bling-Lichterkette am Balkon, die mein Lebensgefährte aus Slowenien mitgebracht hatte. Es sind blaue LED-­Lichter, die man verschieden einstellen kann. Es gibt zum Beispiel eine heftig pulsierende Turbofolk­version, aber die erschien mir zu riskant, der potenziellen epileptischen Anfälle wegen. Die sanft wallende Adriaschaltung reicht völlig, um die Nachbarn in den Wahnsinn zu treiben – früher, vor der Gentrifizierung, hätte man uns dafür nicht mal belächelt. Unser blaues Bling-Bling wäre einfach von nikotingelben Vorhängen geschluckt worden; doch heute sind da keine Vorhänge mehr, stattdessen hat man glatten Durchblick auf meterhohe Bücherregale und moderne Kunst. „Guck mal, die haben auch alle blaue Lichterketten“, meinte mein Lover noch – aber es war bloß die unsere, die sich in den Fenstern spiegelte.

Andererseits: Welche Nachbarn eigentlich? An Weihnachten sind die Neuberliner ja alle in ihren Heimatdörfern und Kleinstädten, alles sehr gut auf Facebook dokumentiert. Ein kurzer Kontrollblick auf das Treiben der Neuen Rechten in den sozialen Medien ergibt den Befund: Feiertagsmodus auch hier, also bloß routinemäßige Hetze gegen den Islam, kein besonderer Untergang des Abendlandes steht an. Originell nur: In einem Thread beschwert sich ein ansonsten fröhlich alles und jeden mithassender Landwirt über die pejorative Verwendung des Begriffs „Bauer“ in gesellschaftlichen Zusammenhängen.

Stille Nacht also, heilige Nacht sogar, und das in Berlin. In Neukölln und Wedding ist nur Leben noch, weil die Araber ihre Restaurants offen halten und die Türken die Spätis. Im Stadtteil Prenzlauer Berg hingegen herrscht Totalverdunkelung, als sei Weihnacht 44.

Und noch ein Lichtlein brennt, und zwar im lokalen Stadtbad, das auch am ersten Weihnachtsfeiertag geöffnet hat für die Mühseligen, Dagebliebenen und mit Gänsebraten Beladenen. Schon am Eingang geschieht Unglaubliches: Die Kassiererin und stolze Angestellte der Berliner Bäderbetriebe wünscht tatsächlich auch noch „viel Spaß“, nachdem sie, es ist ja Weihnachten, auf den „Warmbadezuschlag“ verzichtet hat. Drinnen ist das Becken, auch unglaublich, fast leer. Eine weihnachtlich anmutende Szene spielt sich ab: Vater und Tochter lernen zugleich schwimmen. Während die Mutter die mit Schwimmflügeln bepackte Tochter durch das Wasser zieht, balanciert der Schwiegervater seinen Nichtschimmer-Schwiegersohn auf seinen Armen, damit dieser die Bewegungen üben kann. Es klappt schon ganz gut – und auch wenn seine Tochter schneller sein wird, eines Tages werden sie gemeinsam schwimmen gehen können.

Die Fünftage­vorschau

Fr., 29. 12.

Peter Weissen­burger

Eier

Mo., 1. 1.

(auf taz.de)

Mithu Sanyal

Mithulogie

Di., 2. 1.

Doris Akrap

So nicht

Mi., 3. 1.

Adrian Schulz

Jung und dumm

Do., 4. 1.

Jürn Kruse

Nach Geburt

kolumne@taz.de

Später sind wir hungrig und müde. Bei McDonald’s am Hermannplatz wühlt ein Mann nach Essensresten. Ein anderer Mann, der auch nicht aussieht, als ob er Geld hätte, kauft ihm einen Cheeseburger. Der Verkäufer hinter dem Tresen trägt eine rote Nikolausmütze.