Biennale in Istanbul: Das fünfte Element

Das Kunstevent eröffnete in Istanbul unter dem Motto „The Seventh Continent“. Vielen Werken fehlt jedoch die Dringlichkeit.

Ein Foto von einem Mann mit Taucherbrille, der einen Karpfen an seiner Brust hält und streichelt

Still aus Jonathas de Andrade: „The Fish“ (2016) Foto: Ingo Arend

Ein riesiger runder Schlammberg, in dem seltsame Reste auftauchen: Ein skelettierter Schädel, die Tonfigur eines schlafenden Menschen, Bruchstücke von Fundamenten. Claudia Martínez Garays Arbeit „The Creator“ wirkt wie eine verlassene Ausgrabungsstätte. Zu welcher untergegangenen Kultur könnten diese Fundstücke gehört haben?

Das Gefühl von Dystopie, des Endes aller Zivilisation war allgegenwärtig auf der 16. Istanbul Biennale, die am Wochenende am Bosporus eröffnete. Viele der 220 Kunstwerke von 56 internationalen KünstlerInnen spielten mit der Frage, wie eine ferne Nachwelt auf eine Zivilisation blicken würde, die zielstrebig auf den Abgrund zumarschiert.

16. Istanbul-Biennale, bis 10. November 2019

„The Seventh Continent“ hat der französische Kurator und Philosoph Nicolas Bourriaud, Mitbegründer des Pariser Palais de Tokyo, als Motto über seine Biennale gestellt. Das belegt erneut den avantgardistischen Anspruch der 1987 gegründeten Istanbul-Biennale. Die 3,4 Millionen Quadratkilometer große Fläche aus Plastikmüll im Pazifischen Ozean, die die Formel aufruft, steht natürlich für das Menetekel des Anthropozän: dem zu Tode transformierten Planeten, der an seinem Müll erstickt.

Dass sich die Kunst mit diesem Überlebensthema beschäftigt, ist mehr als überfällig. Es ist daher ein paradigmatischer Vorgang, dass eine der interessantesten Figuren der globalen Kunstwelt daran scheiterte, das in dem Bild einer bleibenden Schau zu bündeln.

Ein poetisches Monster

Wie auf jeder schlechten Biennale gibt es auch in Istanbul ein paar gute Werke. In seinem Werk „Prospecting Ocean“ etwa dokumentiert der Fotograf und Filmemacher Armin Linke die Ergebnisse einer Langzeitrecherche zur Ausbeutung der Weltmeere und dem Widerstand von Öko-AktivistInnen genau in dem Teil des Südpazifiks, in dem der „Siebte Kontinent“ treibt.

Das Feral Atlas Collective, eine Gruppe aus KünstlerInnen, Natur- und GeisteswissenschaftlerInnen für „environmental storytelling“, dokumentiert die ungeplanten Effekte großer Infrastrukturprojekte: Den zwei Jahre währenden Ausbruch eines Schlammvulkans auf der indonesischen Insel Java beispielsweise als Folge einer Gasbohrung – die einzige Arbeit, die konkret auf den „Siebten Kontinent“ eingeht.

Zu den poetischen Arbeiten zählt das Monster, das die britische Künstlerin Monster Chetwynd auf die Terrasse eines der verfallenen, von Bäumen überwucherten Holzhäuser auf Büyükada, dem idyllischen Sommerrefugium der Istanbuler im Marmarameer, gestellt hat: ein Flugdrache mit ausgebreiteten Armen, halb Mensch, halb Tier – Sinnbild des heraufdämmernden Posthumanen.

Wie der Falke in dieser Novelle des voranschreitenden Anthropozäns fungieren die „Kunstformen der Natur“ wie die Zeichnungen des deutschen Naturforschers Ernst Haeckel aus dem 19. Jahrhundert: als pittoreske Notate einer längst verlorenen Welt.

Bisschen langweilig ist es schon

Zu den eindrucksvollsten Werken zählt die Arbeit des brasilianischen Künstlers Jonathas de Andrade. In seinem Film „Der Fisch“ folgt er brasilianischen Fischern bei ihren Fangzügen. Diese schlachten ihre Beute nicht, sondern begleiten sie in den Tod.

Wenn einer der Männer einen riesigen Fisch vor der nackten Brust hält und so lange streichelt, bis er aufhört zu atmen, ist das nicht nur ein eindrucksvolles Bild für die Kommunikation zwischen inkommensurablen Spezies, auf die Bourriaud bei der Biennale auch hinauswill. Es ist außerdem ein bewegendes Bild für das fundamentale Dilemma unserer ­planetaren Existenz: Einerseits auf die Natur zum eigenen Lebensunterhalt angewiesen zu sein. Andererseits einen respektvollen Umgang, eine andere Form des Austauschs mit ihr pflegen zu müssen.

Trotz positiver Ausnahmen kommt auf dieser Biennale dennoch nirgends ein Gefühl der Dringlichkeit und des Noch-nie-Gesehenen auf. Zu oft verliert Bourriaud den Fokus, streut Arbeiten in die Biennale, die mit seinem Kernthema nichts zu tun haben. Dass die Schau zwei Wochen vor ihrer Eröffnung Hals über Kopf die wichtigste Location wechseln musste, lässt sich dagegen nicht ihm anlasten.

Auf Halic, der grandios verrotteten Schiffswerft des Osmanischen Reichs am Goldenen Horn, hätte seine Biennale sicher ihren kongenialen Ort gefunden. Zu den abgeschlossenen Kammern des neuen, noch nicht eröffneten ­Kunstmuseums der Mimar-Sinan-Universität, in das er mit den Werken ausweichen musste, weil auf der Werft Asbest gefunden wurde, schreiten die Besucher nun freilich wie beim Krankenbesuch.

Es gibt keine Blickachsen, die Werke kommunizieren nicht. Diese Isolieranstalt nimmt der Biennale jede ästhetische Durchschlagskraft.

Zudem vermisst man auf hier die Auseinandersetzung mit den Problemen vor Ort. Die Bauwut in der Türkei ist praktiziertes An­thropozän: Von dem zweiten Bosporus-Kanal, den Erdoğan zum Schwarzen Meer bauen lassen will, über den gigantischen neuen Flughafen Istanbuls, für den Millionen Bäume gefällt wurden, bis zu der Goldmine, die die kanadische Firma Alamos im Ida-Gebirge vorantreiben will.

Die Kunstblase Istanbul

Doch weder gibt es eine Arbeit, die sich damit befasst, noch hat Bourriaud Öko-Initiativen in die Biennale einbezogen. Was bei dem Erfinder der „Relationalen Ästhetik“ erstaunt. In seiner berühmten Schrift aus dem Jahr 1998 plädierte er für eine Kunst, der Aktionen solidarischen Miteinanders wichtiger sind als die Produktion immer neuer, ästhetischer Hardware.

Trotz dieses Reinfalls gewinnt die Kunst am Bosporus. So offensiv und geballt war sie seit dem missglückten Putsch 2016 und Erdoğans nachfolgendem Feldzug gegen KünstlerInnen und Intellektuelle nicht mehr aufgetreten. Die Biennale und die kommerzielle Kunstmesse Contemporary Istanbul, sonst auf maximalen Abstand bedachte Gegenspieler, legten diesmal ihre Termine zusammen. Demonstrativ beehrte Istanbuls neuer Bürgermeister Ekrem İmamoğlu beide Events. Zeitgleich öffneten zwei neue private Kunstmuseen.

Im Handwerker-Stadtteil Dolapdere konnte der Industriellenclan Koç mit Arter endlich das Museum für seine Kunstsammlung eröffnen, das Direktor Melih Fereli in seiner Eröffnungsrede als „Soft Power“ für Demokratie und Meinungsfreiheit pries. Und in der anatolischen Provinzmetropole Eskişehir übergab der Architekt und Bauunternehmer Erol Tabanca das Odunpazarı Museum für Moderne Kunst (OMM) der Öffentlichkeit.

Wenn Tabanca sich von dem architektonischen Blickfang vollmundig einen „Odunpazarı-Effekt“ verspricht, will er das Vorbild Bilbao im Baskenland kopieren. Sein versöhnlerisches Motto: „Art is something, that softens all harsh relations“ muss man nicht goutieren. Die Menschen in der kunstentwöhnten Provinz mit ungewohnten Sehweisen herauszufordern, macht aber womöglich mehr Sinn, als die Kunstblase Istanbul immer weiter auszudehnen.

Der neuerliche Kunstboom in dem Land zwischen Europa und Asien zeigt jedenfalls, dass im kulturellen Hegemonialkampf zwischen Islam und Moderne in der Türkei die liberale Öffentlichkeit immer noch die Nase vorne hat.

Sinnlicher als die Biennale-Werke

Das Arter-Kunstmuseum, ein gewaltiger Klotz aus Glas, Metall und Stein, bauten die technoiden Londoner Architekten Grimshaw. Ausgerechnet Tabancas kleineres Provinz-Museum ist aber ein gelungenes Beispiel dafür, wie die Kunstwelt ökologische Imperative aufzunehmen imstande ist.

Der japanische Architekt Kengo Kuma hat ein Ensemble riesiger Holzkuben in den historischen Ortskern gestellt, gebildet aus gestapelten Kantbalken aus sibirischer Pinie – Tribut an die Tradition der Stadt als Holzmarkt und ein Signal für Nachhaltigkeit.

Symbol für Tabancas ökologisches Signal ist die Auftragsarbeit des japanischen Bambus-Künstlers Tanabe Chikuunsai IV. Vier der ineinandergedrehten Stränge seiner riesigen Skulptur „Das fünfte Element“ symbolisieren die Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer.

Der fünfte Strang steht für den „humanen Faktor“, der alles verbindet. Die Arbeit zeigt das Dilemma des Anthropozäns kunstvoller und sinnlicher als viele der Biennale-Werke: Der Mensch kann die Zukunft des Planeten zum Guten oder zum Schlechten wenden.

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