Interview mit Regisseur Milo Rau: „Widerstand heißt überleben“

Regisseur Milo Rau kommt mit der School of Resistance nach Berlin. Ein Gespräch über Widerstand, Mozart und digitale Praktiken während der Pandemie.

Zwei Darsteller auf einer Bühne, einer sitzt, der andere läuft.

Szene aus der Mozart-Oper „La clemenza di Tito“, von Milo Rau in Genf inszeniert Foto: Carole Parodi

taz: Herr Rau, Sie haben gerade die Mozart-Oper „La clemenza di Tito“ in Genf inszeniert. Durfte bei der Premiere auch live Publikum dabei sein?

Milo Rau: Einige Kol­le­g*in­nen waren live da. Wir hoffen natürlich, wir können das bei den Wiener Festwochen im Mai vor Publikum spielen. Wir haben die Premiere kostenlos gestreamt, international auf allen möglichen Kanälen.

Wie funktioniert das?

Die Genfer Oper hat ihren eigenen Kanal. Dann hat es das französische Opernfernsehen Mezzo TV gesendet. Im Schweizer Fernsehen läuft in den nächsten Tagen eine TV-Fassung. Umsonst und zugänglich für jeden. Quasi die Anti-Oper.

Geboren 1977 in Bern, veröffentlichte seit 2002 über 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen. Seit der Spielzeit 2018/19 ist er Künstlerischer Leiter des NTGent. 2021 erscheint im Verbrecher Verlag sein Buch „Grundsätzlich unvorbereitet“. Milo Raus „School of Resistance“ in der Akademie der Künste Berlin, Filme und Diskussionen im kostenfreien Livestream, 24.–28. 2. 2021, detailliertes Programm unter https://www.adk.de/

Wie konnten Sie in der Schweiz jetzt während der Pandemie arbeiten? Volle Präsenz bei Proben von Opernsängerinnen und Orchester?

Na ja, nicht ganz. Der Chor sitzt mit Abständen im Publikum, anders hätten wir ihn nicht in den Saal gekriegt. Und zwischen den Solisten und den 18 Figuranten gibt es ebenfalls Abstände. Das bringt eine gewisse Statik. Und natürlich wurden wir permanent getestet.

Wie viele Personen arbeiten für so eine Mozart-Oper gleichzeitig vor und hinter der Bühne?

So um die 150 Menschen. Der Chor, das Orchester, die Figuranten, all die Technikerinnen …

Worum geht es in der Oper?

„Clemenza di Tito“ ist eine Art Modellstück über die tolerante, aufgeklärte Herrschaft. Es gibt einen Anschlag auf das Leben des Kaisers Tito, der aber den Verschwörern verzeiht. Eigentlich passiert extrem viel: da bricht ein Vulkan aus, das Volk erhebt sich, das Kapitol wird in Brand gesteckt. Mozart verzichtet aber vollständig auf die Darstellung der realen Auswirkungen all dieser Ereignisse.

Und da setzen Sie an?

Die Oper entsteht 1791, zwei Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution. Sie zeigt die Geburt der Postpolitik aus dem Geiste der Konterrevolution: es entsteht jene tolerante Elite, wie wir sie heute auch manchmal sehen. Das Bürgertum verbündet sich mit dem Adel, um nicht vom 4. Stand abgeräumt zu werden. Das Revolutionäre wird als pervers dargestellt. Mozarts Volk, der Chor, ist eine hirnamputierte Jubelmaschine. Deshalb habe ich 18 Menschen aus Genf eingeladen, deren Leiden und biografische Hintergründe man nach und nach erfährt – und die damit von der bürgerlichen Kunstmaschine angeeignet werden. Eine Art Metakritik.

Inmitten vom Schutt eines zerstörten Hauses wird gefilmt

Milo Rau (links, sitzend) bei den Arbeiten zu „Orest in Mossul“ Foto: Armin Smailovic

Mozart schrieb die Oper anlässlich der Krönung des böhmischen Königs. Verstehen Sie sie als versteckte Kritik an autoritärer Herrschaft?

Die Selbstfeier der Elite in dem Libretto ist fast schon obszön. Die Idee der Unmöglichkeit einer „guten“ Macht ist aber in einem dunklen Untergrund fühlbar, der immer wieder die glatte Oberfläche der Oper durchbricht. Darauf habe ich mich mit Dirigenten und Sängerinnen konzentriert.

Das ist Ihre erste Oper. Wie war es?

Es war ein Rausch. Mit so vielen Menschen gleichzeitig zu arbeiten, ein reines, kindliches Vergnügen.

Die Genres und Medien vermischen sich heute immer mehr.

Das ist wohl der Grund, warum ich Oper instinktiv mag: Man kann alles mit allem mischen, eine Idee der Reinheit ist inexistent. Unsere „Clemenza“ beispielsweise ist zugleich eine Oper, ein Dokumentar- und Gruselfilm. Es gibt performative Szenen, eine Kunstausstellung und dazwischen immer wieder Theater mit Dialogen.

Es scheint, als könnte Ihnen der pandemiebedingte Lockdown wenig anhaben. Ihren Film „Das Neue Evangelium“ brachten Sie im Dezember online an den Start. War das richtig, nicht auf die Öffnung der Kinos zu warten?

Absolut, denn sonst gehen die Kinos kaputt. Wir haben eine neue Verleihstrategie entwickelt und gesagt: Wir bringen das nicht auf Netflix heraus, sondern mit Beteiligung der geschlossenen Kinos. Über hundert Kinos machen mit. Sobald die Säle wieder aufgehen, zeigen wir den Film live, klar.

In Belgien, in Gent sind Sie Intendant am Nationaltheater. Wie gehen Sie dort mit der Situation um?

Wir hatten gleich im Oktober entschieden, bis Ende März zu schließen und dafür den Sommer durchzuspielen. Wir haben Filme gedreht und in Arbeitsgruppen unsere Institution grundlegend umgekrempelt. Unsere Räume und unsere Technik stellen wir derweil auch freien Gruppen und NGOs zur Verfügung.

Was glauben Sie, wie wird der Theaterbetrieb mit und nach der Pandemie aussehen?

Wir müssen unsere Produktionsweisen grundsätzlich ändern. Warum spielen wir immer drinnen, warum immer abends, wenn wir eh völlig fertig sind? Warum nicht morgens, warum nicht draußen? Wir planen ein „All Greeks Festival“: alle griechischen Tragödien in 32 Tagen, jeden Tag eine von 7 bis 9 Uhr. Dann Tee oder Kaffee und jeder geht seiner Wege. Auf längere Sicht wollen wir ein viertes Haus eröffnen, ein Zirkuszelt mit eigenem Ensemble, das herumzieht in der Welt. Ein neues Living Theatre.

Ich erinnere mich ans „Genter Manifest“, das Sie zu Beginn Ihrer Intendanz in Gent veröffentlichten. Da favorisierten Sie schnell zu realisierende, bewegliche internationale Produktionen. Die Pandemie scheint die von Ihnen gewünschte Globalisierung von Kunst, Recherche und Austausch erstmals gestoppt zu haben.

Das „Genter Manifest“ mit seiner Forderung leichter und inklusiver Arbeitsformen gilt für uns noch viel mehr als vorher. Wir arbeiten mit Partnern an einem neuen Modell des CO2-neutralen Tourings. Wir haben auf Elektro-Autos umgestellt, proben online und vermeiden alle unnötigen Reisen. Ich liebe Streaming, aber Theater ist und bleibt Präsenzkunst. Es ist die Form des Austauschs und die Art der Räume, die sich ändern müssen.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Werk mit dem Völkermord in Ruanda („Hate Radio“) genauso wie mit dem Stand der Humanität in unseren Gesellschaften („Das Neue Evangelium“). Wie ließe sich das Übergreifende Ihrer Theatertätigkeit formulieren?

Das Schaffen neuer Kollektive und damit neuer Handlungsräume. Zentral dabei ist für mich der Begriff der Katharsis: keine Schönheit, kein Verstehen, keine Solidarität ohne die Dialektik des Streits, ohne den Stress des Kollektivs. „Ich kann allein nicht denken“, hat René Pollesch für das „Why Theatre?“-Buch geschrieben, das wir am NTGent rausgegeben haben. Das sehe ich genauso.

Am Theater in Gent haben Sie die „School of Resistance“ gegründet. Eine „Schule des Widerstands“ gegen was oder wofür?

Irgendwie ist es passiert, dass wir trotz unserer Intelligenz und Liebesfähigkeit in einem System der Ausbeutung leben, das in sehr absehbarer Zeit auf die Zerstörung des Planeten hinausläuft. Und obwohl wir das wissen, tun wir nichts dagegen. Widerstand heißt also schlichtweg überleben, oder anders: Wie können wir Wissen und Praktiken einer anderen, nachhaltigen Ökonomie zusammenbringen, aus allen Ecken der Welt? Die „Schule des Widerstands“ ist ein globales Netzwerk aus Aktivistinnen, Künstlerinnen, Bauern, Philosophen, Ingenieuren und einfach Menschen, die alle auf ihre Weisen Praxisformen des Überlebens und der Würde entwickelt haben.

Sie haben in Russland, Brasilien, dem Irak oder dem Kongo inszeniert. Ist „Widerstand“ in einer westeuropäischen Demokratie nicht etwas gänzlich anderes als in einer halben oder ganzen Diktatur?

Es gibt immer wieder überraschende Ähnlichkeiten und es gibt große Unterschiede. Die Verknüpfung von Rassismus, Patriarchat und kapitalistischer Ausbeutung zum Beispiel ist eine globale und auch historische Konstante. Da muss man Gleichzeitigkeiten nutzen, Solidaritäten schaffen – und immer beweglich bleiben. In der Zusammenarbeit mit der brasilianischen Landlosenbewegung, die völlig verfassungskonform Land besetzt und Privateigentum enteignet, habe ich gemerkt: Das ist ja auch in der deutschen Verfassung vorgesehen! Let’s occupy!

Nun kommen Sie mit Ihrer „School of Resistance“ für fünf Tage an die Akademie der Künste mit einem Livestreaming-Programm. Was darf das Publikum erwarten?

Wir zeigen sechs unserer Filme – von den „Moskauer Prozessen“ über den „Sturm auf den Reichstag“ bis zum „Neuen Evangelium“. Dazu gibt es Debatten, in denen Akademiemitglieder und Aktivisten aus aller Welt die Projekte hinterfragen und Einblick in ihre eigenen geben.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, aber ich hatte keine so schöne Schulzeit. „School of Resistance“ klingt nach Frontalunterricht. Stärken die digitalen Talk-Zusammenkünfte nicht die alten Inszenierungsgesten?

Eigentlich war die „School of Resistance“ als Besetzung der Akademie der Künste geplant. Wir hätten alle ein paar ­Wochen da gewohnt, Aktivistinnen aus aller Welt. Zusammen mit den Berlinern und den Akademiemitgliedern gegessen, Filme geguckt, debattiert. Die Akademie wollte parallel dazu das Christoph-Schlingensief- und das Peter-Weiss-Archiv öffnen. Jetzt wird die Akademie der Künste eben zur TV-Station. Was mich persönlich angeht: Ich höre sehr gern zu. Und wer will, schaltet sich einfach ein. Und wir hören ihm dann auch zu. Oder schaltet eben ab. Auch okay.

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