EuGH-Urteil zu Rechtstaatlichkeit: EU-Gericht billigt die Geldkeule

Polen und Ungarn scheitern mit Klagen gegen die neue EU-Sanktionsverordnung. Die beiden Länder müssen nun mit Geldkürzungen rechnen.

Mateusz Morawiecki und Victor Orban mit Maske

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki und der ungarischen Premierminister Viktor Orban im Junie 2021 in Brüssel Foto: Aris Oikonomou/epa

FREIBURG taz | Der neue finanzielle EU-Sanktionsmechanismus kann jetzt angewandt werden. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) lehnte am Mittwoch Klagen von Polen und Ungarn ab: Der Rechtsstaatsmechanismus verstoße nicht gegen EU-Recht. Wegen der großen Bedeutung der Sache entschied der EuGH im Plenum aller 27 Richter:innen.

Schon seit Jahren wurde diskutiert, wie die EU auf EU-Mitgliedstaaten einwirken kann, die ihre Gerichte auf Regierungslinie bringen, die die Grundrechte von Minderheiten missachten und die im Innern korrupt sind. Der EU-Vertrag sieht in Artikel 7 ein eher unpraktikables Verfahren vor: Einem Staat, der die Werte der EU verletzt, können die Stimmrechte in EU-Gremien entzogen werden – wenn sich alle anderen Staaten einig sind. Das Verfahren läuft aber leer, wenn sich zwei Staaten, etwa Polen und Ungarn, gegenseitig decken.

Deshalb hat die EU im Dezember 2020 einen weiteren Sank­tions­mechanismus beschlossen. Bei Mitgliedsländern, die intern die Rechtsstaatlichkeit verletzen und so finan­ziel­le Interessen der EU gefährden, können EU-Gelder gekürzt oder gestrichen werden. Die EU nennt das „Konditionalität“: Geld gibt es nur bei rechtsstaatlichem Verhalten. Beschlossen werden die Sanktionen dann mit qualifizierter Mehrheit (erforderlich sind also mindestens 15 von 27 EU-Staaten, die für 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen).

Polen und Ungarn konnten die Sanktionsverordnung damals nicht verhindern. Sie drohten aber, den EU-Haushalt und den 700 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbaufonds zu blockieren. Deshalb sagten Brüssel und die anderen EU-Staaten zu, den neuen Sanktionsmechanismus erst dann anzuwenden, wenn der EuGH über die angekündigten Klagen von Polen und Ungarn entschieden habe. Das Europäische Parlament war über dieses Zugeständnis empört und erhob im Oktober 2021 eine Untätigkeitsklage gegen­ die EU-Kommission, über die der EuGH aber noch nicht entschieden hat.

Recht ist auf Seite der EU

An diesem Mittwoch ging es nur um die Nichtigkeitsklagen von Polen und Ungarn. Sie hielten den Sanktionsmechanismus aus drei Gründen für rechtswidrig. Erstens habe die EU keine Kompetenz, die Justiz der Mitgliedstaaten zu kontrollieren. Zweitens werde das Verfahren nach Artikel 7 umgangen. Und drittens sei völlig unklar, was mit „Rechtsstaatlichkeit“ überhaupt gemeint ist. Alle drei Argumente hat der EuGH nun zurückgewiesen.

EuGH-Richter:innen

Es gehe nicht an, dass Staaten die EU-Werte nur beim Beitritt einhalten

Die EU habe das Recht, einen Mechanismus zum Schutz ihres Haushalts zu beschließen, so die Richter:innen. Das Ziel der neuen Verordnung sei nicht die Beseitigung von rechtsstaatlichen Mängeln in den Mitgliedstaaten, sondern der Schutz der finanziellen Interessen der EU. Das Geld aus Brüssel soll dafür ausgegeben werden, wofür es vorgesehen ist. Wenn in einem bestimmten Staat das EU-Geld vor allem an Regierungsgünstlinge ginge und es in diesem Staat keine unabhängige gerichtliche Kontrolle gäbe, dann wären zugleich die finanziellen Interessen der EU verletzt.

Der EU-Haushalt, so der EuGH, beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass alle Mitglieder das Geld korrekt ausgeben. Im Haushalt werde auch die gegenseitige Solidarität konkretisiert, betonten die Richter:innen. Es gehe nicht an, dass Staaten die EU-Werte nur beim Beitritt einhalten und sie später missachten. Die EU müsse in der Lage sein, die gemeinsamen Werte im Rahmen ihrer Aufgaben zu verteidigen.

Artikel 7 wird laut EuGH nicht umgangen, denn er habe eine andere Funktion als die neue Sanktionsverordnung. Der Artikel ziele darauf, die Verletzung verschiedener EU-Werte in Problemstaaten abzustellen, während die neue Verordnung nur den Haushalt schütze und sich auf Rechtsstaatsmängel beschränke.

Schließlich hält es der EuGH auch für ausreichend klar, was mit „Rechtsstaatlichkeit“ gemeint ist: transparente und pluralistische Gesetzgebung, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, Schutz der Grundrechte, Gleichheit vor dem Gesetz, Verbot von Willkür. So stehe es auch ausdrücklich in der Verordnung.

Sanktionsverfahren bereits auf dem Weg

Gegen die EuGH-Entscheidung können Polen und Ungarn keine Rechtsmittel mehr einlegen. Die EU-Kommission kann und muss den Sanktionsmechanismus nun anwenden. Auf Druck des EU-Parlaments hat Kommissionschefin Ursula von der Leyen im November bereits Briefe mit vielen Fragen an Ungarn und Polen geschickt, eine erste Stufe im Sanktionsverfahren.

Gleichzeitig hat die EU-Kommission bereits im Vorjahr die Auszahlung von Geldern aus dem Corona-Aufbaufonds an Polen und Ungarn blockiert. Für Polen geht es dabei um 24 Milliarden Euro Zuschüsse, Ungarn wartet auf rund 7 Milliarden Euro. Offiziell hat Brüssel dabei nicht den Sanktionsmechanismus angewandt, faktisch ging es aber auch hier um die Frage, ob die Gelder im Sinne der EU verwendet werden und es ausreichende Kontrollen gibt.

Zudem hat der EuGH in zwei Vertragsverletzungsverfahren Zwangsgelder gegen Polen verhängt. Konkret geht es um den Braunkohletagebau Turów, der ohne Umweltprüfung betrieben wird. Hier setzte der EuGH im September 2021 ein tägliches Zwangsgeld von 500.000 Euro an.

Und im Streit um die Disziplinarkammer für Richter:innen, die die Unabhängigkeit der Justiz bedroht, verlangt der EuGH seit Oktober 2021 täglich 1 Million Euro. Auch dies ist unabhängig vom neuen Sanktionsmechanismus.

Az.: C-156/21 und C-157/21

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