Digitales Schulfach in Hessen: Braucht es das wirklich?

Von digitalem Lernen sind die meisten Schulen weit entfernt. Hessen setzt seit dem Sommer als erstes Land auf ein eigenes Schulfach. Ein Ortsbesuch.

SchülerInnen im Digital-Unterricht.

Die Fünftklässlerinnen der Carl-von-Weinberg-Schule zerlegen im Unterricht einen PC Foto: Bernd Hartung

FRANKFURT AM MAIN taz | Wer an einem Mittwochvormittag den Unterricht der Carl-von-Weinberg-Schule besucht, der glaubt: Hier in Frankfurt hat die digitale Zukunft schon begonnen. Zumindest in den zwei fünften Klassen. In einer zerlegen Amira, Raabeah, Milda, Emilia und Melina gerade einen PC in seine Einzelteile. Während der Computer da sein Innenleben offenbart – Schaltkreise, Kabel, Platinen –, stehen sie begeistert davor und diskutieren angeregt. „Wo ist denn jetzt das Mainboard?“, fragt eines der Mädchen, als sie sich suchend über den Computer beugt. Die Aufgabe: Die Schü­le­r*in­nen müssen die Computereinzelteile ihren Funktionen und Namen zuordnen.

Diese Autopsie am Computer ist Teil eines deutschlandweit einzigartigen Modellfachs. Der schlichte Titel: „Digitale Welt“. Am zwölf Schulen in Hessen läuft seit Schuljahresbeginn dieser Versuch. Ein Jahr lang, so die Startvorgabe, soll das Ganze an fünften Klassen erprobt werden. Das selbstgesteckte Ziel der Landesregierung: „Ein neues Schulfach für das digitale Zeitalter“, wie Hessens Kultusminister Alexander Lorz und Digitalministerin Kristina Sinemus (beide CDU) zur Vorstellung im Sommer erklärten.

Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung bescheinigte erst vor Kurzem eine repräsentative Umfrage der Initiative D21, einem Netzwerk aus Politik und Wirtschaft, das sich die Digitalisierung auf die Fahne geschrieben hat. Eines der Ergebnisse: Gerade einmal 44 Prozent der Eltern gaben an, dass digitale Geräte und Anwendungen im Unterricht eine sehr große Rolle spielten. Unter Hessens Eltern ist diese Auffassung noch seltener vertreten. Weitere Kritikpunkte: fehlender Internetzugang an den Schulen und mangelnde Kompetenzen der Lehrer*innen.

Neues Fach im Modellversuch

Dabei hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) bereits 2016 eine gemeinsame Strategie zur „Bildung in der Digitalen Welt“ beschlossen. Das Ziel: eine fächerübergreifende Verankerung der digitalen Bildung und Verbesserungen bei der Lehrerbildung. Die Umsetzung kommt trotz des milliardenschweren Digitalpakts Schule nur schleppend voran.

In Hessen setzt man nun also sogar auf ein eigenes, neues Fach. Zumindest im Modellversuch. Der Inhalt von Digitale Welt: grundlegende Kompetenzen der Informatik vermitteln. Diese sollen dann mit ökonomischer und ökologischer Bildung verknüpft werden, erklärten die zuständigen Ministerien bei der Vorstellung des neuen Fachs. Ein fixes Curriculum gebe es zwar noch nicht. Doch auch Medienbildung, Datenschutz, Algorithmen könnten Teil des neuen Fachs sein. Es ist also einiges, was sich Hessen da vorstellt – und das für Klasse 5.

„Ich finde, man kann gar nicht früh genug anfangen“, entgegnet John Klemen-Geiger, der an der Carl-von-Weinberg-Schule das neue Fach unterrichtet. Gerade erst vor wenigen Wochen habe es an der Schule einen Vorfall gegeben, der seiner Meinung vielleicht hätte verhindert werden können, wenn es ein solches Fach regulär schon früher gegeben hätte. Eine junge Schülerin habe ein Video mit den Konterfeis ihrer Mit­schü­le­r*in­nen zusammengeschnitten und ins Internet gestellt. Weil alle minderjährig waren, ein echtes Problem. „Obwohl alle permanent online sind, fehlt es vielen an Wissen zu dem, was sie da eigentlich tun“, sagt Klemen-Geiger, der normalerweise Mathe und Physik unterrichtet.

Im Nebenraum wuselt Eva Maria Orth herum. Auch sie unterrichtet in dieser Doppelstunde Digitale Welt. Dafür hat die Kunst- und Relilehrerin verschiedene Stationen aufgebaut, die die Kinder mit selbstgewählter Reihenfolge bearbeiten können. „Wann hast du deinen ersten Roboter programmiert?“, steht da zum Beispiel auf einem Post-It. Er liegt an der Station, wo die Schü­le­r*in­nen Fragen an KI- und Robotik-Wissenschaftler*innen sammeln sollen.

Rückmeldung der Eltern positiv

Über das Projekt „I am a Scien­tist, get me out of here“ hat Lehrerin Orth Gespräche mit Forscher*in­nen organisiert, denen die Kinder ihre Fragen stellen können. Andere basteln Malroboter aus Plastikbechern und Batterien. „Ich will, dass die Kinder die Angst verlieren vor Technik und Programmieren. Und sowohl die Chancen als auch die Risiken dieser Technologien begreifen“, sagt Orth.

Die ersten Rückmeldungen der Eltern seien positiv, berichtet Schulleiterin Carolin Kubbe. „Ich hatte kurz vor den Sommerferien Anrufe von Eltern, die noch zu uns wollten, nur wegen Digitale Welt“, schildert sie. Geklappt habe das nicht, weil die Anmeldephase da schon lange vorbei war. Auch im Kultusministerium spricht man von hoher Nachfrage. Einige Schulen hätten sogar weitere Pilotklassen beantragt.

Doch braucht es wirklich ein eigenes Fach? Lehrer Klemen-Geiger findet ja: „Die bisherigen Versuche, Digitalisierung als Querschnittsthema zu verankern, haben nicht funktioniert.“ Viele Lehrkräfte täten sich selbst schwer mit der Digitalisierung – wie solle es da fächerübergreifend vermittelt werden?

Das sieht der Vorsitzende der hessischen Bildungsgewerkschaft GEW, Thilo Hartmann, anders. „Digitalisierung muss überall im Unterricht gelebt werden – und nicht in ein einzelnes Fach ausgelagert werden.“ Vor allem seien die Lehrkräfte zu eingespannt, um die Digitalisierung nebenher zu schaffen: Ein Fünftel der Lehrkräfte arbeite nach einer GEW-Studie mehr als 48 Stunden die Woche. „Wie und vor allem wann sollen sie da noch Konzepte zur Didaktik der Digitalisierung im Unterricht entwickeln?“

Ein Lehrer bastelt mit Schülern an Computertechnik.

Eigentlich unterrichtet Klemen-Geiger Mathe und Physik – in Digitale Welt geht es praktischer zu Foto: Bernd Hartung

Mit dem Wunsch, Digitalisierung als Querschnitt zu begreifen, liegt Hartmann ganz auf Linie der KMK. Auch sie fordert, dass die Digitalisierung nicht in einem einzigen Fach abgehandelt werden soll. Das Kultusministerium in Hessen sieht in den KMK-Vorgaben und dem eigenen Fach keinen Widerspruch. Ein Ministeriumssprecher sagt auf taz-Anfrage, dass die Schü­le­r*in­nen das erlernte digitale Handwerkszeug „selbstverständlich in allen Unterrichtsfächern“ anwenden sollen.

Apropos Qualifikation: Für den aktuellen Modellversuch gab es nur wenige Wochen Vorlauf. Dass das Fach dennoch so schnell umgesetzt werden konnte, liegt vor allem an zwei Faktoren. Der eine: Die teilnehmenden Schulen waren ohnehin schon umtriebig in Sachen Digitales und wurden extra danach ausgewählt. An der Carl-von-Weinberg-Schule – eine offizielle Eliteschule des Sports, die regelmäßig Olympioniken hervorbringt – gab es beispielsweise schon eine Art Vorläuferfach für Digitales. Als ein zusätzliches Angebot für die Nicht-Sportler*innen quasi.

Der zweite Grund: das Engagement der Lehrerkräfte. An der Carl-von-Weinberg-Schule brennen Eva Maria Orth und John Klemen-Geiger für die Digitalisierung. Orth hat eine Zeit lang im Silicon Valley gelebt und den Digitale-Welt-Vorläufer „Pixelfit“ für die Schule entwickelt. Klemen-Geiger findet Informatik hochspannend und bot ohnehin eine Robotik-AG an.

Es sind also besondere Voraussetzungen, die die Projektschulen schon mitbringen. Lehrer Klemen-Geiger glaubt deshalb auch nicht, dass sich das neue Fach kurzfristig an allen hessischen Schulen einführen ließe. Gewerkschafter Hartmann versteht nicht, warum es dieses Fach überhaupt geben sollte: „Jahrelang wurde der Informatikunterricht stiefmütterlich behandelt, Arbeitslehre an Gymnasien abgeschafft. Und jetzt soll es ein ganz neues Fach geben?“ Für ihn ist das Fach Digitale Welt deswegen ein strategisches Leuchtturmprojekt. Nächstes Jahr steht in Hessen eine Landtagswahl an.

Das weist das hessische Bildungsministerium natürlich zurück. Das Modellprojekt soll in jedem Fall noch um ein Jahr verlängert werden – mit mehr Schulen und auch für Klasse 6. Das heißt: Vor der Landtagswahl im Herbst wird es ziemlich sicher keine Entscheidung zur Weiterführung geben. Vielleicht entpuppt sich das Fach ja noch als Wahlkampfthema.

Für Klemen-Geiger und Orth sind andere Fragen drängender: etwa, wie sie bald die Ökologie in dem Unterricht verankern sollen. Bisher haben sie ihre Stunden zu Themen wie digitalen Medien oder Bilder im Netz gehalten. Zur Ökologie soll es demnächst eine entsprechende Weiterbildung mit Inputs geben. Ideen hat Orth dazu schon: Vielleicht ein Projekt mit dem Temperatursensor des Mikrocomputes „Calliope Mini“.

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