Krieg in der Ukraine: Wie oft werde ich sterben?

Seit einem Jahr wütet der Krieg in ihrem Land. Aus der Ukraine zu berichten ist alles, was unsere Autorin tun kann.

Eine alte Frau geht an einem durch Artilleriebeschuss beschädigten Gebäude vorbei

Nach dem Rückzug russischer Truppen aus der Stadt Cherson geht der Alltag irgendwie weiter Foto: Florian Bachmeier

Vier Leichen mit durchschossenen Hinterköpfen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, im Keller eines Kinderheims in Butscha. Rot lackierte Finger einer Toten, die ein Schlüsselbund umklammert, der Anhänger zeigt die Europaflagge. Rot auch die Blutschlieren auf den weißen Sportschuhen eines vierjährigen Mädchens. Ein von Hunden angeknabberter Knochen, der vor einem Monat noch das Bein eines jungen Mannes war. Verbrannte Körper von russischen Soldaten mit zertrümmerten Schädeln. Ein freigelegtes Massengrab im Wald. Riesige Löcher in der Fassaden mehrstöckiger Wohnhäuser. Blut, Betonbrocken, Leichengeruch – das ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine.

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Wenn du es dir ansiehst, mit deinen eigenen Augen oder in den Medien, ist es, als ob dein Körper und deine Seele eine einzige große Wunde sind. Als ob jedes deiner Moleküle mit deinem Land verschmolzen wäre. Als ob dein Herz sein Puls ist. Bei jedem Raketeneinschlag spürst du Schmerzen. Jedes Mal ist es wie ein kleiner Tod. Wie viele werden es noch sein?

So viele Tragödien haben sich in diesen 365 Tagen ereignet. Du erinnerst dich an das Datum jeder einzelnen. Jede hat das Leben einer Ukrainerin oder eines Ukrainers zerstört. Oder ausgelöscht. Es ist ein Schmerz nicht nur für ihre Angehörigen. Dieser barbarische russische Krieg hat alle Ukrai­ne­r*in­nen zu Verwandten gemacht. Er wird sich in ihr persönliches und historisches Gedächtnis fräsen, für viele Generationen.

Ich erinnere mich sehr gut an die ersten Tage der großen Invasion. Es war beängstigend, es war unmöglich, das ganze Ausmaß dessen, was da gerade geschieht, zu erfassen. Als vor einem Jahr die ersten Raketenangriffe auf Kyjiw, Odessa und Lwiw niedergingen, schien das etwas aus dem Reich der Fiktion zu sein. Nun, im Februar 2023, ist es der Alltag in der Ukraine.

Leben in einer neuen grausamen Realität

Heute wundert es niemanden mehr, wenn Leh­re­r*in­nen ihre Schü­le­r*in­nen online aus U-Bahn-Stationen unterrichten. Wenn Eltern das Essen für ihre Kinder in Mikrowellen an Tankstellen erhitzen, weil es nur dort Strom von Generatoren gibt. Studierende schreiben ihre Arbeiten in Einkaufszentren, weil sie da Zugang zum Internet haben. Ärz­t*in­nen operieren und entbinden Babys in Kellern, im schwachen Licht von Smartphones. Männer sehen ihre Kinder und Ehefrauen das ganze Jahr über nur auf den kleinen Bildschirmen ihrer Telefone. Eine Großmutter ist in Polen in einer Flüchtlingsunterkunft, ihre ältere Tochter und deren Kinder leben in Deutschland, die jüngere mit den anderen Enkeln in einem italienischen Dorf.

Niemand von ihnen hatte sich vorstellen können, wie es ist, im eigenen Haus zu sterben, weil eine Bombe einschlägt. Oder weil Eindringlinge einen vor die Tür zerren und erschießen. Niemand von ihnen hatte es für möglich gehalten, dass die Ukraine zum Ort des größten militärischen Konflikts in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg werden würde. Ohne ein Ende in Sicht.

Als die Invasion begann, hatte ich keinen Zweifel daran, dass ich über alles berichten musste, was vor sich gehen würde, egal wie beängstigend und schmerzhaft es sein würde. Hätte ich vor einem Jahr gewusst, was ich alles sehen, welche Tragödien ich ertragen und in Texten beschreiben müsste: Ich hätte es trotzdem wieder gemacht.

In einem Krieg voller Propaganda und Manipulation spielt das Wort von Jour­na­lis­t*in­nen eine noch wichtigere Rolle als sonst. Die Welt hätte das Ausmaß der russischen Kriegsverbrechen nicht erfahren, wenn Jour­na­lis­t*in­nen nach der Befreiung von Butscha und Irpin nicht dort gewesen wären. Daher fiel es mir leicht, meine Rolle in diesem Krieg zu wählen. Ich konnte nicht einfach tatenlos zusehen, was passierte.

In Wahrheit tobt der Krieg schon seit dem 20. Februar 2014

Tatsächlich hat der Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht am 24. Februar 2022 begonnen. Sondern am 20. Februar 2014, als die ersten russischen Besatzer auf den Straßen meiner Heimatstadt Simferopol auf der Krim auftauchten. Dieser Krieg dauert nun schon seit neun Jahren an, aber viele innerhalb und außerhalb der Ukraine haben versucht, ihn zu ignorieren, ihn „einzufrieren“, kleinzureden. Weil das bequemer war. Doch die Geschichte lehrt uns, dass es nie funktioniert, den Aggressor zu beschwichtigen. Nachdem er seine Stärke aufgebaut hat – nicht ohne die Hilfe von Beschwichtigern – wird er immer wieder zuschlagen, mit immer noch größerer Kraft. Das ist genau das, was jetzt passiert.

In letzter Zeit hört man viel über Hassgefühle von Ukrai­ne­r*in­nen gegenüber Russ*innen. Hass ist ein negatives und destruktives Gefühl. Aber er hat Gründe. Er speist sich aus dem Leid, das russische Truppen auf ukrainischem Boden verursacht haben, aus der unprovozierten Aggression, die Züge von einem Genozid trägt. Es ist klar, dass Russland, geführt von Putin, die Ukraine mit allen Mitteln unterjochen will. Selbst wenn dies die Ausrottung der Hälfte der lokalen Bevölkerung und die Zerstörung aller bewohnten Gebiete erfordert. Die täglichen Angriffe lassen keinen Zweifel daran.

Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass die Gefühle der Ukrai­ne­r*in­nen gegenüber ihrem Feind im Laufe des vergangenen Jahres mehrere Phasen durchlaufen haben. Die anfängliche Angst verwandelte sich in Wut, die Wut wurde vom Hass abgelöst – und der Hass wird nun zu Verachtung. Wenn man von seinen eigenen Kräften letztlich überzeugt ist, beginnt man, sich dem Aggressor moralisch überlegen zu fühlen, man blickt auf ihn herab. Wahrscheinlich wird sich dieses Gefühl eines Tages, Jahre nach dem Krieg, in Gleichgültigkeit verwandeln.

Oft hört man die Meinung, die Ukraine müsse sich an den Verhandlungstisch mit Russland setzen, um das Blutbad zu beenden. Aber die Ukraine hat bereits einen zu hohen Preis gezahlt, um einen Kompromiss mit denjenigen zu suchen, die weiterhin, Tag für Tag, die Zukunft des Landes töten. Zehntausende von jungen Männern und Frauen, Fachleute und Spezialisten in verschiedensten Bereichen, die eine demokratische und europäische Ukraine hätten aufbauen können: Sie liegen unter der Erde. Russland müsste seine Verbrechen zugeben und Buße tun, damit die Ukrai­ne­r*in­nen ihm vergeben können. Ein anderer Kompromiss wäre für sie angesichts all des Leids kaum zu akzeptieren. Ich finde es immer noch seltsam, wenn das von anderen manchmal nicht verstanden wird.

Wenige Momente bitterer Freude

Blicke ich auf dieses grausame Jahr zurück, denke ich, dass es inmitten all des Schreckens auch ein paar Momente der Freude gab. Zum einen die Zerstörung der widerrechtlich von Russland errichteten „Krim-Brücke“, was der russischen Truppen- und Waffenlogistik an der Südfront erheblichen Schaden zugefügt hat. Zum anderen das, was daraus folgte: die Befreiung von Cherson.

Die Rückeroberung von Cherson, dem einzigen regionalen Zentrum in der Ukraine, das seit dem 24. Februar von den Russen besetzt werden konnte, hat nicht nur die Hoffnung geweckt, dass auch die anderen, schon länger okkupierten Gebiete wieder unter ukrainische Kontrolle gebracht werden könnten. Sie hat den Ukrai­ne­r*in­nen auch gezeigt, dass ihr Land in der Lage ist, einem großen Aggressor wie Russland zu widerstehen – und eine Gegenoffensive zu starten, selbst wenn es dafür keine Aussicht auf Erfolg zu geben schien. Für mich persönlich war es das erste Mal seit der Annexion der Krim 2014, dass ich Zuversicht spürte, meine Heimathalbinsel eines Tages wieder besuchen zu können.

Dieser Krieg hat den Ukrai­ne­r*in­nen geholfen, sich selbst besser kennenzulernen. Trotz aller interner Meinungsverschiedenheiten kann das Land im Angesicht des Feindes fest zusammenstehen. Die Ukrai­ne­r*in­nen glauben an ihre Stärke, ihre Tapferkeit und Freiheitsliebe. Nein, das Ende des Krieges ist noch nicht in Sicht, und sein Ausgang ist nicht so klar, wie manche schon glauben mögen. Aber in gewisser Weise haben die Ukrai­ne­r*in­nen schon jetzt gesiegt, denn sie haben nicht nur sich selbst, sondern auch vielen anderen etwas Wichtiges in Erinnerung gerufen: dass Frieden und Freiheit von unschätzbarem Wert sind. So kostbar, dass man im Zweifel dafür sterben muss.

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