Autobiografie von Margo Jefferson: Selbstbehauptung gegen den Kanon

Was es bedeutet, privilegiert und reich zu sein in einer rassifizierten Gesellschaft, beschreibt Margo Jefferson in „Constructing a Nervous System“.

Ein Bild von Margo Jefferson vor einem Bücherregal

Beschreibt, wie fragil Identität ist: Margo Jefferson Foto: Victor Hilitski/imago

Was bedeutet es, reich in den 1950er Jahren aufzuwachsen – aber als Afroamerikaner*in? Diese Frage steht im Mittelpunkt einer der wichtigsten Memoiren des letzten Jahrzehnts, des Buches „Negroland“ der US-amerikanischen Kritikerin Margo Jefferson, das 2015 erschien. In „Negroland“ widmet sich Jefferson der komplizierten Konstruktion von Identität – was es bedeutet, wenn man von seiner Umwelt als Schwarz konstruiert wird, wie es das Lesen, Denken und das Verständnis von Geschichte verändert.

Noch interessanter für aktuelle Debatten ist allerdings der kürzlich erschienene Nachfolgeband „Constructing a Nervous System“, in dem die Autorin die Fäden des ersten Buchs aufnimmt und Fragen stellt zur Rolle, die Schwarze Menschen in der mehrheitlich weißen Literaturgeschichte spielen.

Dabei gehören dazu besonders Texte wie Louisa May Alcotts „Little Women“ und Willa Cathers „Das Lied der Lerche“, in denen klugen jungen Frauen Identifikationsangebote gemacht werden – sofern sie weiß sind. Die Frage im Zentrum des zweiten Buchs ist: Wie bilde ich mir ein Selbstbild, wenn ich dafür nur Au­to­r*in­nen und Vorbilder habe, die entweder weiß sind – oder von weißen Kritikern herabgesetzt werden?

Margo Jefferson ist seit Jahrzehnten eine der führenden Kulturkritikerinnen und -figuren in den USA. Als sie 1995 mit dem Pulitzerpreis für Kritik ausgezeichnet wurde, hatte sie bereits über zwei Jahrzehnte lang für Zeitungen von Newsweek bis New York Times geschrieben und an unterschiedlichen Universitäten unterrichtet. Im Jahr 2006 veröffentlichte Jefferson ihr erstes Buch, ein Popkulturessay über Michael Jackson, in dem neben Diskussionen von Jacksons Kindheit auch und besonders Jacksons Begriff von Männlichkeit dekonstruiert wurde; es ist das einzige Buch der Autorin, das bislang auf Deutsch vorliegt.

Brüche in der Identitätsbildung junger Schwarzer Menschen

Dieses Projekt, Michael Jackson nicht in seiner Zeit zu verorten, sondern quer dazu, im Widerspruch zu Begriffen von Männlichkeit und Pop-Stardom zu verstehen, mit Anleihen bei anderen Stimmen wie Little Richard, passt zu dem größeren Projekt in Margo Jeffersons Werk: dem Aufspüren von kulturellen Querverbindungen und der Darstellung von Brüchen in der Identitätsbildung junger Schwarzer Menschen.

Nun also ihre Memoiren. In „Negroland“ fand Jefferson für die Widersprüchlichkeiten einer Kindheit, die sonst eher selten im Mittelpunkt steht, eine eigene Form. Zu den Themen des Buchs gehört die Schulzeit in einer mehrheitlich weißen Schule ebenso wie die damals hohe Selbstmordrate unter jungen Afroamerikaner*innen, aber zentral, und in immer neuen Anläufen, geht es um die Frage, was es eigentlich bedeutet, privilegiert und reich zu sein in einer rassifizierten Gesellschaft.

Die Frage ist der 1947 geborenen Autorin wichtig, denn sie wurde in Chicago als Kind reicher Eltern geboren. Margo Jefferson führt hier eine Unterscheidung ein zwischen den Begriffen privilege und entitlement, die in etwa dem Unterschied zwischen Privilegien und einer Anspruchshaltung entspricht, die aus der Geschichte abgeleitet wird.

Privilegien, so schreibt Jefferson, sind vorläufig. Sie können verweigert, vorenthalten, zähneknirschend angeboten und entzogen werden. Anspruchshaltungen hingegen fußen auf einer Tradition, die von Rassismus durchzogen ist und deshalb umso schwerer zu erschüttern ist.

Dabei sucht Jefferson immer wieder Anschlüsse zur – oft weißen – Literatur. In beiden Bänden ihres autobiografischen Schreibens gibt es viele andere Stimmen, Texte und Ideen, und Jefferson findet neue Verbindungen – und Trennungen zu Schriftstellern und Denkern, die sie ihr Leben lang gelesen und über die sie nachgedacht hat.

Die überragende Bedeutung Ella Fitzgeralds

Wir erfahren von dem Schock, „Gone with the Wind“ im Kino gesehen zu haben und sich repräsentiert zu sehen von Hattie McDaniel, aber wir lernen auch, wie schwierig die Lektüre von Autoren wie James Baldwin ist, dessen Essays sich an zwei unterschiedliche Leserschaften richten – eine weiße und eine Schwarze.

Wie Schwarze Künst­le­r*in­nen in der weiß dominierten Kultur dargestellt werden, beschäftigt die Kritikerin Jefferson durchgehend. Von Schwarzen Komponisten, die von Willa Cather ausgelassen werden, bis hin zu Ella Fitzgerald, die für Jefferson eine überragende Bedeutung hat, deren Körperumfang und Neigung zum Schwitzen aber öfter im Zentrum der Berichterstattung gestanden habe als ihre musikalische Genialität. Jefferson weist präzise nach, dass es sich oft um gezielte Auslassungen, Übertreibungen, Umschreibungen handelt.

Margo Jefferson: „Constructing a Nervous System“. Pantheon Books, New York 2022,197 Seiten, 27 US-Dollar

Margo Jeffersons Memoiren sind vielstimmig: Sie paraphrasiert, zitiert, schreibt um. Sie positioniert sich zwischen großen und klassischen Autor*innen, wie sie zuletzt in einem Aufsatz schreibt, weil ihr Schreiben ohne sie undenkbar ist, und nicht nur trotz der Auslassungen und Probleme in ihren Werken, sondern zum Teil auch wegen dieses Hintergrunds.

Bei Jefferson lernen wir, wie fragil Identität ist, wie präsent Rassismus in der literarischen Tradition, und wie Lesen und Schreiben für viele Menschen eine Selbstbehauptung mit und gegen einen großen Kanon literarischer Stimmen ist.

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