João Canijos „Mal Viver“ und „Viver Mal“: Vom Hintergrund in den Mittelpunkt

Filmisches Doppel im einsamen Hotel: João Canijos „Mal Viver“ und „Viver Mal“ erzählen dieselbe Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven.

Eine junge Frau blickt von auf eine ältere Frau herab

Tochter und Mutter: Salomé (Anabela Moreira) und Piedade (Madalena Almeida) in „Mal Viver“ Foto: Midas Filmes

Ein Film hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Jean-Luc Godard (und sein Epigone Quentin Tarantino) würden ergänzen: nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. So oder so ist ein Film in aller Regel eine geschlossene Form. Orte, Figuren, Geschichten existieren innerhalb der Laufzeit des Werks. Angesichts der inzwischen fast 130 Jahre langen Geschichte des Films mag es überraschen, dass diese Regel so selten aufgebrochen wurde, dass es so wenige Versuche gab, diese Form zu sprengen.

So ein Experiment gibt es nun bei der Berlinale zu sehen, ein Doppelfilm des portugiesischen Regisseurs João Canijo: „Mal Viver“, der im Wettbewerb zu sehen ist und ­„Viver Mal“, der in der Sektion Encounters gezeigt wird.

25. 2., 9.30 Uhr, Zoo Palast 1

26. 2., 20.30 Uhr, HdBF

Beide Filme spielen in einem einsamen Hotel, das nicht mehr allzu gut läuft. Nur noch wenige Gäste verirren sich in den altmodischen Bau, der seine besten Tage hinter sich hat, faulenzen am Pool, lassen sich im Restaurant bedienen. „Mal Viver“ erzählt von den Besitzerinnen des Hotels, vor allem der Geschäftsführerin Piedade (Anabela Moreira), ihrer Mutter Sara (Rita Blanco) und ihrer Tochter Salomé (Madalena Almeida), deren Vater, von dem Piedade schon lange getrennt war, gerade verstorben ist.

Frauen aus drei Generationen

Das Verhältnis der Frauen aus drei Generationen ist distanziert und kühl, was Canijo durch die Bilder noch unterstreicht: In langen Einstellungen spielt sich das Geschehen ab, in Bildern, die oft durch Türrahmen oder Fenster eingefasst sind, in ferne Räume blicken, in denen Figuren sich überlagern, auch Figuren, die anscheinend keine Bedeutung haben.

Besonders zwei Szenen sind zu nennen: Eine spielt im Restaurant des Hotels, wo Piedade den Gästen Wein empfiehlt oder Stammgäste begrüßt, und eine frontale Einstellung der Hotelfassade, in der fünf Fenster erleuchtet sind, fünf Zimmer, fünf Leben zu beobachten sind.

Auch für sich betrachtet ergeben diese Szenen Sinn, zeigen Variationen des Zwischenmenschlichen, alltägliche Situationen, die eskalieren, zum Streit führen, die um das Thema Mutter-Tochter-Beziehungen kreisen. Ein Thema, dass durch den zweiten Film des Doppels variiert, erweitert und aus anderer Perspektive betrachtet wird.

Zwei Filme, zwei Perspektiven

„Viver Mal“ besteht aus drei Episoden, die jeweils von Stücken August Strindbergs inspiriert sind. In jeder dieser Episoden stehen Figuren aus „Mal Viver“, die dort in besagter Restaurantszene auftauchten oder in anderen Szenen bisweilen im Hintergrund zu sehen waren, im Mittelpunkt: Ein Paar, das durch ständige Anrufe seiner Mutter irritiert wird, ein anderes Paar, dessen Mutter gar zusammen mit ihnen im Hotel ist, schließlich ein lesbisches Paar, das von der Mutter der einen Frau auseinandergebracht wird.

Manche Szenen finden sich in beiden Filmen, teils sogar dieselben Einstellungen. Andere sind in den beiden Filmen und den drei Episoden von „Viver Mal“ aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, bisweilen unterscheiden sie sich gar nur durch den wechselnden Fokus der Tonspur, die mal die Unterhaltung dieses Paars hören lässt, später dann dieselbe Einstellung zeigt, diesmal aber die Unterhaltung eines Paars hörbar macht, das vorher im Hintergrund saß und nicht zu hören war.

Missverständnisse und Streitereien

Wie eine manierierte Spielerei mag sich dieses Konstrukt anhören, doch was João Canijo mit seinem formalen Experiment im Sinn hat, ist mehr. Zwar funktioniert gerade „Mal Viver“ auch als alleinstehender Film durch seine formale Strenge, den konzentrierten Blick auf die gestörten Mutter-Tochter-Verhältnisse, in denen Verletzungen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Doch „Viver Mal“ zeigt nicht einfach nur weitere problematische Beziehungen, die zufällig am selben Ort spielen: Immer wieder ist Piedade, die eigentliche Hauptfigur des Doppelfilms, im Bild zu sehen, als zufällige Ohrenzeugin der Missverständnisse und Streitereien der Hotelgäste.

Vielleicht ist es all dieses Elend, das sie als ständige Präsenz im Hotel mitanhören muss, das sie zu der Tat führt, die am Ende von „Mal Viver“ steht. Für das Verständnis des einen ist die Kenntnis des jeweils anderen Films nicht zwingend notwendig, als formales Experiment zeigt João ­Canijos Doppelfilm jedoch spannende Möglichkeiten auf, Erzählungen anders und auch komplexer filmisch umzusetzen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.