Erinnerungsarbeit mit Fotografie: Trauer ermöglichen

Der Künstler Hrair Sarkissian fotografiert Schauplätze gewaltvoller Vergangenheit in Syrien oder Armenien. Das wird jetzt in Maastricht gezeigt.

Ein Mann, dessen Rücken man sieht, schaut in eine weite Berglandschaft

„Sweet and Sour“, 2022, Hrair Sarkissian→Foto: der Künstler/Auftrag: Bonnefanten Maastricht Foto: Hrair Sarkissian / Bonnefanten Maastricht

Was liegt auf der anderen Seite der Stille? Folgt man dem Künstler Hrair Sarkissian in der Ausstellung „The Other Side of Silence“ im Bonnefantenmuseum in Maastricht, finden wir dort einen Raum ohne Sprache und ohne Menschen. Still ist es trotzdem nicht. Es wird gehämmert, auf Metall geschlagen, gekratzt und gebürstet; und es wird geatmet. Vielleicht hören wir weniger diesen Raum jenseits der Stille als die Kraftanstrengungen des Künstlers, sich auf diese andere Seite durchzuschlagen.

Der in London lebende Hrair Sarkissian ist bekannt für großformatige fotografische Serien, die mit dem Motiv der Abwesenheit spielen und auf die Vorstellungskraft der Be­trach­te­r*in­nen bauen. Ob in Form verschneiter Landschaften in Armenien, in bühnenhaften Kulissen in Fotostudios im Mittleren Osten oder in Form auffällig ruhiger Plätze in den städtischen Zentren Syriens – als Be­trach­te­r*in­nen kommen wir nicht umhin, die Leerstellen mit unserer Fantasie und unseren Projektionen zu füllen.

Gelegentlich geben die Titel Aufschluss, so wie in letztgenannter Serie: „Execution Squares“. 1973 in Damaskus geboren, wurde Hrair Sarkissian als Kind ungewollt Zeuge der staatlichen Erhängungen unter Hafis al-Assad auf dem morgendlichen Weg zur Schule. Jahre später kehrte er mit der Kamera an diese Plätze zurück und fotografierte sie zu jener Tageszeit, an denen die Exekutionen in der Regel stattfanden. Die Bilder zeigen Orte städtischen Treibens, Häuser, Palmen, jedoch keinen Verkehr, keine Menschen. Im Zentrum die unsichtbaren Geister der Erhängten.

Vielleicht besteht ­Sarkissians Kraftanstrengung aus genau dieser Arbeit: der späten Umkehr der Erfahrung der kindlichen Zeugenschaft in einen Akt der Selbstermächtigung. Die Fotografie ist dabei sein Mittel. Die Bedeutung dieser Ermächtigung reicht jedoch über Sarkissians eigene Biografie und die Geschichte seiner Familie hinaus. Es ist auch eine Arbeit an der Gewaltgeschichte der Region, dem Mittleren Osten.

Das erste Farbfotostudio Syriens

Am nächsten erfahrbar werden diese Verbindungen durch eine seiner jüngsten Arbeiten, „Sweet and Sour“, von 2022. Sarkissian lernte das fotografische Handwerk von seinem Vater, der in den 1970er Jahren das erste Farbfotostudio Syriens eröffnete.

Hrair Sarkissian: „The Other Side of Silence“. Bonnefantenmuseum, Maastricht. Kooperation mit Bonniers Konsthall Stockholm und Sharjah Art Foundation, VAE. Bis 14. Mai 2023

Der Vater selbst war Sohn von Überlebenden des armenischen Völkermords. Die Familie stammt ursprünglich aus einem heute vorwiegend kurdisch besiedelten Teil der Osttürkei. In drei unterschiedlichen Filmen zeigt Sarkissian uns nun den Vater, wie er, bewegt und um Fassung ringend, Bilder des Dorfes seiner Vorfahren in der Türkei sieht, aufgenommen von seinem Sohn, der in einer dritten Sequenz über die Landschaft der verlorenen Heimat schaut. Wir hören dabei den schweren Atmen des Vaters.

Hrair Sarkissian, „Homesick“, 2014 Foto: Bonnenfanten

Sarkissian kehrt mit diesem Werk die Ökonomie genozidaler Zerstörung um. An die Stelle der Vertreibung und des Verlusts tritt ein Geschenk an den Vater. Ihm ermöglicht Sarkissian nun durch genau jenes Handwerk, das ihm sein Vater selbst vermittelt hat, die Trauer.

Was sind die Grenzen und Möglichkeiten des Trauerns in der Folge von katastrophalen Erfahrungen? Angesichts der Tatsache, dass auch viele Wochen nach den schweren Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion viele Angehörige noch immer nicht die toten Körpern ihrer Freunde und Verwandten gefunden haben, hat diese Frage nichts an Aktualität eingebüßt. Sie begleitet uns in dieser Region aber schon lange.

Wie lässt sich die Kastrophe fassen?

Im Armenischen bezeichnet das Wort Aghet die Katastrophe, den Völkermord an den Ar­me­nie­r*in­nen im spätosmanischen Reich, der viele Fragen, die später vor allem mit der Schoah ins Zentrum rückten, vorweggxriff. Schrift­stel­le­r*in­nen wie Zabel Jesajan und Hagop Oshagan rangen schon im Vorfeld des Völkermords, als es immer wieder zu größeren Massakern kam, mit Fragen wie: Wie lässt sich solch ein Ereignis fassen? Wie können wir es verstehen oder gar repräsentieren? Und wie überhaupt ließe es sich für die Überlebenden und deren Nachfahren verarbeiten?

Anders als Nazideutschland ging die Türkei durch den auf den Ersten Weltkrieg folgenden „Unabhängigkeitskrieg“ letztlich als Siegerin hervor und schrieb somit wortwörtlich Geschichte: Offiziell hat es laut der Türkei den Völkermord als solchen nie gegeben. Um auch die Wirklichkeit mit dieser Erzählung in Einklang zu bringen, wurden Archive zerstört oder kamen unter Verschluss; armenische Ortsnamen verschwanden von Karten und Schildern; Häuser, Kirchen und majestätische Klöster wurden dem Erdboden gleichgemacht oder zur Unkenntlichkeit umgewandelt; Überlebende wurden infolge anhaltender Diskriminierung in die Migration getrieben und vor allem Kinder durch Adoption zwangsassimiliert.

Diese mehr oder minder verdeckte Politik der Vernichtung zieht sich in Form unzähliger Anordnungen, Gesetze und örtlicher Gewaltausbrüche durch die ganze Geschichte der türkischen Republik.

Die institutionalisierte Leugnung des Völkermords an den Armenier hat Auswirkungen auf die Zeugenschaft und offenbart den genozidalen Willen als eine epistemische Gewalt. Er ist nicht nur ein Wille zum Töten, er ist auch ein Angriff auf das Wissen, das Bezeugen und die Möglichkeiten des Betrauerns. Der armenische Philosoph und Literaturwissenschaftler Marc Nichanian spricht im Fall von Aghet daher von einem Trauerverbot, einer „interdiction of mourning“.

Einerseits wird Zeugenschaft dem Mandat der rechtlichen oder historiografischen Beweisführung unterworfen, solange immer noch um Anerkennung gekämpft werden muss. Doch welche Zeugin könnte jemals eine Absicht zur kollektiven Vernichtung bezeugen? Auch halten die Täter ihre Intention in den wenigsten Fällen auf Papier fest. Andererseits entzieht sich das Ereignis unserem Verständnis.

Ein Platz mit Häusern und Palme

„Execution Squares“ von Hrair Sarkissian zeigt Plätze früherer Hinrichtungen Foto: Hrair Sarkissian /Collection: Sharjah Art Foundation, UAE

Es braucht ein Mindestmaß an sinnstiftender Ordnung, um den Toten – ja, dem Tod selbst – einen Ort zu geben und somit Trauer zu ermöglichen. Ist diese Grenze überschritten, wird Trauer zur Kampfzone, wie wir es von den Müttern des Plaza de Mayo in Argentinien bis zur weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung gelernt haben.

Während die Wissenschaft nicht viel mehr tun kann, als all dies zu ergründen, kann sich die Kunst gegen das Verbot der Trauer stemmen. Die Räume, die dadurch entstehen, sind, um es mit der Literaturwissenschaftlerin Aurélia Kalisky zu sagen, undiszipliniert.

Dies zeigt sich bei Hrair Sarkissian an der unbestimmten Grenzziehung zwischen Dokumentation und Inszenierung. Teils mittels der Fotografie, die immer auch ein zweites Leben als forensische Technik führt, teils mittels bildhauerischer Rekonstruktionen schafft Sarkissian neue Dokumente, stellt alte wieder her und baut Archive. Die Exekutionsplätze wiederum begegnen uns gleichzeitig als vom Künstler gestellte Bühnen, auf denen uns die spektakulären Inszenierungen diktatorischer Gewalt durch das nähergebracht werden, was bleibt, nämlich die Häuser und ihre Bewohner*innen, die Straßen und ihre Passant*innen, alltägliche Zeu­g*in­nen der Gewalt.

Überhaupt, die Zeugenschaft. Sarkissian hat im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina, in Brasilien und dem Libanon die Orte abgelichtet, an denen Menschen ihre verschwundenen Geliebten und Verwandten das letzte Mal gesehen haben.

Seine Dringlichkeit mag dies aus der eigenen Familiengeschichte ziehen, das Bezeugen in Sarkissians Arbeiten setzt sich jedoch über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg. Auch indem es unsere Mitarbeit einfordert, uns auf unsere eigenen Erfahrungen und unser Wissen zurückwirft, wird es ganz grundlegend geteilt und relational. Kunst als eine Form der Rechenschaft.

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