René Goldstein über seinen Vater: „Uns sieht keiner“

René Goldsteins Vater hat den Holocaust überlebt, er selbst hat eine geistige Behinderung. Ein Gespräch über das Erinnern, Vergessen und Vergessen-Werden.

René Goldstein auf einem Rollator sitzend auf einer Brücke

René Goldstein im Kurt-Julius-Goldstein-Park in Berlin Foto: Stefanie Loos

wochentaz: Herr Goldstein, wann hat ihr Vater gelacht?

René Goldstein: Vatter hat gerne gelacht. Oft beim Skat mit mir und meinen Brüdern oder beim Rummy mit Mutter zusammen. Und er hatte ein riesiges Reservoir an politischen Witzen drauf. (Seufzt) Ja, Vatter. Er hat gerne und viel gelacht, egal was.

Der Mensch

René Goldstein (61) ist der jüngste Sohn von Kurt Julius Goldstein. Er wuchs in Berlin auf und machte seinen Facharbeiterbrief in der DDR. Über sich selbst sagt er: „Ich bin ein Mensch mit körperlicher und geistiger Behinderung, lasse mir diese aber nicht anmerken.“ Aktuell kämpft er darum, dass ein G in seinen Schwerbehindertenausweis eingetragen wird. G für gehbehindert. Goldstein hat starke Schmerzen in den Knien und kann ohne Rollator nur noch schwer laufen.

Der Vater

Kurt Julius Goldstein wurde 1914 bei Dortmund geboren. Bereits mit 16 Jahren trat er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei. 1933 konnte er sich seiner Verhaftung durch die Nazis entziehen und ging über Luxemburg und Paris nach Palästina. Ab 1936 kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg als Soldat der kommunistischen Internationalen Brigaden gegen die Putschisten um den späteren Diktator Francisco Franco. Nach dem Sieg der Faschisten wurde Goldstein in einem französischen Lager interniert und 1942 an die Nazis ausgeliefert. Er überlebte Auschwitz und Buchenwald und schwor gemeinsam mit anderen Befreiten den Schwur von Buchenwald. „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht.“ 1951 zog er in die DDR, wo er Intendant des Radiosenders „Stimme der DDR“ war. Er engagierte sich ein Leben lang gegen das Vergessen und wurde dafür mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Er starb 2007. Drei Jahre nach seinem Tod wurde ein Park in Berlin-Hellersdorf nach ihm benannt. Goldstein hatte fünf Söhne. René Goldstein ist sein jüngster Sohn.

Ihr Vater wurde als Kommunist und Jude im Juli 1942 nach Auschwitz deportiert. Im KZ-Außenlager Jawischowitz schuftete er über zwei Jahre als Zwangsarbeiter in einer Kohlegrube. Er überlebte. Auf dem Todesmarsch von Auschwitz nach Buchenwald starben Tausende seiner Mitgefangenen. Er überlebte. Wie hat er sich seine Fröhlichkeit bewahrt?

Er hat darum gekämpft, er hat wirklich darum gekämpft. Vatter war ein Stehaufmännchen. So richtig down habe ich ihn nie erlebt. Und er hat versucht, mir und meinen Brüdern diesen Kampfeswillen beizubringen.

Wie viel wussten Sie als Kind von dem, was Ihrem Vater widerfahren war?

Mir war klar, was Vatter passiert ist. Wir haben oft und offen darüber gesprochen. Da wurde nie ein Blatt vor den Mund genommen. Vatter hatte Narben am Kopf, wenn die gejuckt haben, hab ich seinen Kopf gekrault. Ich wusste, was damals war. Vatter ist auch in der Familie gegen das Vergessen angegangen. Alle Goldstein-Jungs haben eine gute politische Bildung, vom Jüngsten bis zum Ältesten.

Er hat also nach vorne geblickt?

Ja! Vatter war positiv. Immer, immer. Ein rückwärtiges Denken kam für ihn nicht infrage. Für beide nicht, Mutter und Vatter.

Was war Ihre Mutter Margot für ein Mensch?

Ein lieber, geduldiger Mensch. Meine Mutter hat immer Hausaufgaben mit mir gemacht, als ich aus der Schule kam. Oft bis abends. Das war Muttern: eigentlich immer für mich und meine Brüder da.

Sie war die Tochter des Kommunisten Wilhelm Wloch und mit einem Kommunisten verheiratet. War sie auch ein politischer Mensch?

Ja. Sie war sehr aktiv in der SED bei uns im Bezirk. Ich bin oft mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und habe Einladungen der Partei zu Sitzungen und in den Kegelkeller ausgeteilt. Auch sie war links, beide Eltern waren überzeugte Kommunisten.

Und die Religion?

Der jüdische Glaube wurde im Hause Goldstein nicht gelebt. Vatter aß Thüringer­ Blutwurst. Für sein Leben gerne. Also nicht koscheres Fleisch. Von der Abstammung her war Vatter jüdisch, ja. Vom Glauben her, nein. Und Mutter war keine Jüdin, also wir auch nicht.

Ihr Vater setzte sich ein Leben lang ­gegen das Vergessen ein.

Meine Eltern waren im Sommer vor Vatters Tod noch im Urlaub. Und obwohl es ihm gesundheitlich schlecht ging, ist er noch in eine Schulklasse da oben gegangen und hat seine Geschichte erzählt. Gegen’s Vergessen! Um Gottes willen. Nie wieder.

Er starb 2007. Wie können wir uns erinnern, wenn die Zeit­zeu­g*­in­nen nicht mehr leben?

Mich fragen! (Klopft sich auf die Brust) Ich bin das Kind eines Zeitzeugen. Und Bücher lesen, über Menschen wie meinen Vatter! Das sind auch wichtige Zeitzeugen.

Vergessen wir?

Es wird versucht, viel gegen das Vergessen zu tun, ob das reicht, weiß ich nicht.

Warum?

Vatter hat vorausgesagt, dass es nach der Wende einen mächtigen Rechtsruck geben wird. Und wenn ich mir überlege, dass eine Partei wie die AfD, die meiner Meinung nach verboten gehört, überall in den Parlamenten sitzt und dass der Rechtspopulismus immer stärker wird, hat er wohl recht gehabt.

Hinweisschild zum Kurt-Julius-Goldstein-Park

Im Kurt-Julius-Goldstein-Park Foto: Stefanie Loos

Macht Ihnen das Angst?

Nein.

Nein?

Es gibt zum Glück ein gutes politisches Gegengewicht. Sowenig ich die CDU mag, aber auch die sind gegen die AfD. Diese Abgrenzung ist wichtig.

Ihr Vater war Träger des Bundesverdienstkreuzes, Ehrenvorsitzender des Internationalen Auschwitz Komitees und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und hat sein Leben lang gegen den Faschismus gekämpft. Wie groß sind die Fußstapfen, die Ihr Vater hinterlassen hat?

Von uns Söhnen kann die niemand ausfüllen. Auch wenn wir uns zusammenstellen würden, könnten wir das nicht. Ich hab versucht, wenigstens kleine Stapfen zu hinterlassen und die rote Fahne hochzuhalten. Ich bin oft nach Heideruh (ein antifaschistischer Begegnungsort in Niedersachsen; d. Red.) und hab da gearbeitet. Wenigstens das. Und wenn ich dort bin, sehe ich immer noch die Eltern vom Bungalow hochkommen, in der Ecke sitzen und mit mir zusammen Urlaub machen.

Wie halten Sie die Erinnerung hoch?

Hier (tippt aufs Herz). Auf den Friedhof gehe ich gar nicht, wenn, dann in den Park. Ich bin oft mit Vattern und Muttern spazieren gegangen. Wir hatten das Hundchen dabei. Mutter ist im Februar, zwei Tage vor ihrem Geburtstag, gestorben. Wir wollten eigentlich feiern. Mein Bruder rief an: „Die Mami ist tot.“ Das ist mit das schwerste Kapitel in meinem Leben.

Wie kann man mit Verlust umgehen?

Verlust ist Verlust. Und es tut immer weh. Und es wird nie aufhören wehzutun. Aber man kämpft. Man kämpft und irgendwie muss das Leben weitergehen. Aber wer sagt, es vergeht, der erzählt Schwachsinn.

In einem Interview mit der taz sagte Ihr Vater einmal, er hätte in Auschwitz eine Art Morgen- und Abendgebet gehabt. Er sagte sich: „Mich kriegen die verdammten Nazis nicht kaputt! Und wenn du das überlebst, dann suchst du dir eine Frau, mit der du viele Kinder in die Welt setzt, für die vielen, die hier umgebracht wurden.“

Hat er ja gemacht!

Ist das auch eine Bürde?

Nein. Ich hatte die besten Eltern der Welt und lasse auf sie nichts kommen. Auch wenn nicht immer alles eitel Sonnenschein war und es auch Streitereien gab. Ohne die Eltern wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin.

Was verdanken Sie Ihren Eltern?

Meine politischen Überzeugungen. Mein Leben. Die Möglichkeit, die Schule vernünftig abzuschließen. Sie haben dafür gekämpft, dass ich auf der Schule bleiben konnte. Meine erste Klassenlehrerin wollte mich auf eine Sonderschule bringen, dagegen haben sich meine Eltern verwahrt. Ich habe zehn Klassen, ich hab ’nen Facharbeiterbrief! Die Eltern haben immer beide auf mich aufgepasst. Auch später, als ich nicht mehr zu Hause wohnte. Mit 23 kam ich in ein Wohnheim für Behinderte.

Was war das für ein Heim? Wie war das dort?

Erst mal gewöhnungsbedürftig. Es war ganz anders als zu Hause. Ich hatte das Glück, in einem Haus mit Garten groß zu werden. Und in dem Wohnheim wurden die Menschen, ich sag mal so, zusammengeschmissen. Ich lebte mit leichtbehinderten und schwerbehinderten Menschen zusammen.

Wie lange blieben Sie dort?

Zehn Jahre. Bis zur Wende habe ich noch gearbeitet. Als Facharbeiter für Anlagentechnik und als Gartenarbeiter. Hab dann noch ’nen Versuch in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung hinter mir, der ist aus gesundheitlichen Gründen gescheitert und dann wurde ich berentet.

Was hat das mit Ihnen gemacht? Sie waren damals erst knapp über 30 Jahre alt.

Es hat mir schon ganz schön die Beine weggerissen. Aber so ging es vielen mit der Wende. Viele wurden arbeitslos. Allein, was nach der Wende an Betrieben kaputt gemacht wurde. Keiner wollte mehr DDR-Produkte haben. Auf einmal war alles aus dem Westen besser.

Ihr Vater hat der DDR nachgetrauert. Sie auch?

Haben wir alle. Aber: So wie es war, was alles hinterher rauskam. So konnte es nicht weitergehen. Es hat sich eine Oberschicht breit gemacht, und ein Normalsterblicher musste sehen, wie er klarkam.

Ihr Vater arbeitete erst für die SED, war dann Chefredakteur und später Rundfunkintendant beim DDR-Radio. Auch Sie haben sicherlich profitiert.

Ja, das stimmt natürlich. Das tue ich bis heute noch. In der ersten Wohnungslosenunterkunft, in der ich gelebt habe, haben wir so gefroren. Wir saßen in Jacken da. Ich habe dann eine Bundestagsabgeordnete angerufen. Was glauben Sie, wie schnell die Heizung an war? Ich nutze die Beziehung aber nur, wenn es nicht anders geht. Zu DDR-Zeiten hätte ich zu einer Kur nach Israel fliegen können, nur weil mein Vatter die Beziehung hatte. Aber ich habe gesagt: „Ich bin ein ganz ­normaler DDR-Bürger, nee ist nicht.“ So bin ich nie gewesen, so werde ich nie sein.

Haben Sie das Gefühl, dass man Menschen mit Behinderung vergisst?

Ich lebe heute in einer Einrichtung für wohnungslose Menschen. Ich gehöre eigentlich in eine Einrichtung für Behinderte! Fragen Sie mal die Wohnungsloseneinrichtungen, wie viele Behinderte dort drinne’ sind, die da nicht reingehören. Behindertengerechte Einrichtung gibt’s viel zu wenig. Wir sind zu zweit in einem Zimmer, mein Kompagnon und ich. Auch er gehört genauso wenig in eine Wohnungsloseneinrichtung. Das Zimmer ist zu einem gewissen Grad behindertengerecht: breite Türen, Sitzdusche, erhöhte Toiletten. Aber Privatsphäre …

… ist nicht?

Wie denn, wenn man den ganzen Tag aufeinanderhockt. Wie sagt man so schön, die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist würdeloses Verhalten vom Staat behinderten Menschen gegenüber. Für den ist es einfacher, uns in Wohnungslosenunterkünfte zu stecken, als sich vernünftig darum zu kümmern, dass Einrichtungen für Behinderte geschaffen werden. Oder betreutes Wohnen, dass man seine eigene Hütte hat. Arbeitsplätze für Behinderte – das ist das gleiche Problem. ’ne Firma, die dit nicht macht, zahlt ein paar Euro Ausgleich. Werkstätten für Behinderte? Gibt es! Aber die Plätze sind Raritätsartikel.

Und auch da gibt es ja Probleme.

Ja, das weiß ich auch aus eigener Erfahrung in einer Reha-Werkstatt. Das Problem war damals: Man musste acht Stunden arbeiten am Tag, für null Ouvert.

Für was?

Null Ouvert. Nie Skat gespielt? Kein Geld gekriegt. Ich hab Geld vom Amt gekriegt, aber nicht von der Arbeit. Erst nach zwei Jahren wäre es so weit gewesen. Aber das hat, wie gesagt, aus gesundheitlichen Gründen nicht geklappt.

Fühlen Sie sich manchmal nicht gesehen?

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Uns sieht keiner. Aber ein behinderter Mensch hat Bedürfnisse. Der möchte arbeiten. Der möchte leben. Der möchte sein Leben so frei wie möglich gestalten. Und überall stößt er auf Widerstände. Ich musste mein Hundchen nach zehn Jahren abgeben, weil sie nicht mit ins Wohnungslosenheim durfte, in dem ich einen Platz bekommen habe. Eine Riesensauerei! Aber was soll ich machen? Ich kämpfe mich durchs Leben, so gut ich kann.

Ist das die Kämpfernatur Ihres Vaters?

Ja. Was soll ich machen? Ich muss mit meinen paar Euro, die ich habe, hinkommen. Ich muss gucken, dass ich damit über den Monat komme. 502 Euro sind zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Zum Glück wirtschafte ich mit meinem Zimmernachbarn zusammen. Wir haben eine gemeinsame Kasse. Wenn eingekauft wird, wird für beide eingekauft. Ich sag immer: Zwei Arme ergeben einen Reichen. So kann man vernünftig einkaufen. Und ich habe das Rauchen aufgegeben.

Ja?

Seit siebeneinhalb Jahren. Meine Eltern haben zu ihren Lebzeiten immer gepredigt: Hör auf zu rauchen! Darauf bin ich stolz. Leider, leider haben sie es nicht mehr erlebt. Sie hätten sich riesig gefreut.

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