Autor Jochen Schmidt über Erinnerungen: „Man muss in die Gesellschaft rein“

In seinem neuen Roman „Phlox“ geht es um den Abschied von Kindheitssommern im Oderbruch. Das hat auch autobiografische Spuren, gibt Jochen Schmidt zu.

Der Autor Jochen Schmidt im Garten hinter einem Baum

„Kochen macht glücklich. Gärtnern auch.“ Jochen Schmidt im Garten Foto: Sophie Kirchner

wochentaz: Jochen, wir kennen uns jetzt über 20 Jahre, deshalb duzen wir uns. Damals hast du noch sehr viel für die taz geschrieben, deine ersten Bücher veröffentlicht, warst für die Lesebühne Chaussee der Enthusiasten bekannt, wo du 1999 bis zu ihrem Ende 2015 wöchentlich gelesen hast …

Jochen Schmidt: Lange her.

Ja. Wollen wir uns zuerst einmal übers autobiografische Schreiben unterhalten?

Ich habe gerade bei einer Konferenz über autobiografisches Schreiben mitmachen müssen. Für Geld. (lacht)

Ist dein neuer Roman „Phlox“ autobiografisch oder zumindest autofiktional?

Ich versuch das ja immer weit von mir zu weisen. Andererseits ist das auch albern. Also gerade aus diesem Spannungsfeld entsteht ja was, dass man einerseits in die eigene Biografie guckt, aber dann halt auch wieder übertreibt oder etwas erfindet. Aber war das überhaupt die Frage? Denn wenn das nicht die Frage war, dann muss ich das auch nicht beantworten, oder doch?

Der Mensch

Jochen Schmidt wurde 1970 in Ost-Berlin geboren und lebt immer noch dort. 1999 gründete er eine der wichtigsten Berliner Lesebühnen, die Chaussee der Enthusiasten. 1999 gewann er den Open-Mike-Literaturpreis für seinen Text „Harnusch mäht als wärs ein Tanz“. Schmidts erstes Buch war ein Band mit Erzählungen, hieß „Triumphgemüse“ und erschien im Jahr 2000, sein erster Roman „Müller haut uns raus“ erschien 2002. Sein fünfter Roman „Phlox“ wurde 2022 veröffentlicht und schaffte es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises.

Das Buch

„Phlox“ (C.H. Beck Verlag, 479 Seiten mit Illustrationen von Line Hoven) dreht sich noch einmal um den Romanhelden Richard Sparka, der Lesern schon aus Schmidts Roman „Zuckersand“ vertraut ist. Sparka fährt mit seiner Familie ein letztes Mal ins geliebte Kindheitsparadies Schmogrow im Oderbruch. Nach dem Tod der Tatziets, die jahrzehntelang das Haus und den Garten zu einem Hort des richtigen Lebens machten, wird das Haus abgerissen und das Grundstück verkauft. Es ist Zeit, endlich auch über die dunklen Seiten Schmogrows nachzudenken.

Doch, das war die Frage.

Na gut. Also, ich sage immer, mich interessiert es gar nicht, ob das jetzt was mit dem Leben des Autors zu tun hat, mir geht es nur um den Text. Andererseits bin ich der Meinung, dass man aus jedem Leben was machen könnte. Also, alles kann Material sein. Hinter der Frage steht ja oft, ist das überhaupt richtige Literatur? Es ist ja gar nicht ausgedacht! (lacht)

Wie schon in deinem ersten Roman über den Helden Richard Sparka, „Zuckersand“, geht es auch in „Phlox“ sehr viel um Wahrnehmung. Außerdem bist du ja spätestens seit deinem Lesetagebuch über Proust als Experte für Erinnerungsliteratur bekannt, oder?

(lacht) Es ging mir um die Freude, die man als Kind an Mechanismen, Verpackungen oder auch an Küchengeräten hat. Ich habe immer mit Sachen gespielt, von denen ich erstmal gar nicht wusste, wofür die sind. Also, ich könnte wahrscheinlich immer noch fast jeden Gegenstand in der Wohnung meiner Eltern aufzählen, weil ich die immer wieder komplett durchsucht habe, in der Hoffnung, etwas Neues zu finden. Ich weiß noch heute, was in jedem einzelnen Schrank war und wie es darin gerochen hat.

Auch auf die Gefahr hin, wie eine Yoga-Lehrerin zu klingen: Es ist ein großes Glück, im Hier und Jetzt zu sein, oder?

Ja, genau. Eine Fähigkeit, die man später verliert. Ich sehne mich immer noch nach den ewig langen Sommern, wo man sich wirklich noch langweilen konnte. Immer, wenn ich dieses Thema anschneide, dann bekomme ich zu hören: Ja willst du denn, dass die Kinder wie Steinzeitmenschen aufwachsen? Ja, genau das will ich. Ich glaube, dass es besser für die ist.

Wie in Bullerbü?

Es ärgert mich, dass dieses Buch immer dazu benutzt wird, von Leuten, die es wahrscheinlich nie gelesen haben, um andere als realitätsferne Träumer …

Ich wollte dich natürlich nicht herabwürdigen!

… als wäre die Welt, die Astrid Lindgren beschreibt, eine künstliche, heile Welt. In Bullerbü ist der Krieg sehr präsent, wenn man genau liest. Bullerbü ist nicht künstlich, unsere Welt ist künstlich. Die Kinder laufen zu Fuß zur Schule, balancieren auf Zäunen und erzählen sich Geschichten, lauter Momente, die heute nicht mehr stattfinden, weil die Kinder irgendwas im Ohr haben oder vorm Gesicht. Wer behauptet, Kinder brauchten Bildschirme, lügt sich in die Tasche. Jetzt klinge ich schon so kulturpessimistisch wie ein alter Mann, der nichts mit Handys anfangen kann.

Und schon sind wir mittendrin in deinem Roman. Richard Sparka fährt zum letzten Mal in das Ferienidyll seiner Kindheit, wo nicht nur alles anders war als in der Stadt, sondern auch anders als in der DDR.

Das Buch handelt von einem Ehepaar, deren Eltern irgendwann um den Ersten Weltkrieg herum aufs Land gezogen sind. Die Tatziets sind Intellektuelle, Frau Tatziet ist eine Frau, die heutzutage studieren würde. Sie hat die Hände ständig dreckig vom Garten, aber aus ihrem Kopf kommen im passenden Moment Zitate aus der Literatur. Ihre Eltern waren Lebensreformer, die auf der Suche nach einem besseren Leben jenseits der modernen Industriegesellschaft waren. Als Kinder liefen Frau Tatziet und ihre Geschwister barfuß, in selbst genähten Kleidern und mit langen Haaren herum und halfen mit. Ihre Eltern haben ihre Kinder mit großer Dickköpfigkeit anders aufwachsen lassen, naturnah, mithilfe der Kreislaufwirtschaft, alles wird wiederverwendet, Arbeit und Leben ist eigentlich eins. Das ist doch was total Modernes!

Ich kann mir die Frage nicht verkneifen: Gibt es eigentlich diesen Ort, dieses Schmogrow wirklich? Im Landkreis Spree-Neiße südlich von Berlin gibt es ein Schmogrow, ist es das?

Nee, bestimmt nicht! Mein Schmogrow liegt im Oderbruch, und ich dachte, ich hätte mir das Wort ausgedacht!

Aber deine Kindkeitssommer mit deinen Eltern, gab’s die?

Eine bunte Reihe an Gießkannen

Ein Sortiment an Gießkannen für die Gartenarbeit Foto: Sophie Kirchner

Ja, ja, wir waren viel im Oderbruch, aber auch an anderen Orten. Authentisch daran ist, dass man in der DDR oft an dieselben Orte gefahren ist, wegen der Grenze. Außerdem hatten viele ein großes Bedürfnis nach Nischen. Dadurch bildet sich an diesem Ort in meinem Buch so ein großer Kreis von Leuten, die halt mit Schmogrow etwas verbunden haben. Also, es war ja ein Ort außerhalb der DDR, oder sagen wir besser, es war ein Ort, wo die DDR nicht so präsent war wie anderswo. Also, in diesem Garten und in diesen Ritualen, die weit zurückreichen, war halt eine andere Welt eingespeichert.

Warum sind die Tatziets so anders?

Das weiß ich nicht, aber sie stammen aus einer Zeit, in der Generationen in der Schule, im Elternhaus und der Kirche geprügelt und abgewertet wurden, und haben das selbst nie getan. Selbst heute denken Erwachsene ja noch, sie könnten mit Kindern Sachen machen, die sie mit Erwachsenen nie machen würden.

Zum Beispiel?

Ich erlebe immer wieder auf dem Spielplatz in Prenzlauer Berg Mütter, die von ihren Kindern verlangen, dass sie teilen. Da würde ich manchmal am liebsten hingehen und sagen, geben Sie mal Ihr Portemonnaie, ich will auch teilen.

Herr Tatziet ist eigentlich Kunstlehrer und animiert die Kinder dazu, zu malen oder zu basteln, so wie er selber dauernd irgendwas bastelt, zum Beispiel zahllose Provisorien.

Ich finde das viel schöner, wenn Dinge nicht endgültig sind. Das hat natürlich wieder viel mit DDR zu tun, weil die DDR ja insgesamt eine einzige Notlösung war, ein Ausläufer der Dritten Welt. Es ist so deutsch, dass bei uns jede neue Bordsteinkante tausend Jahre halten soll. Das Provisorische dagegen kann halt mal wieder weg. Es hat auch etwas Einladendes, dass man vielleicht selber daran weiterbauen darf.

Wie kommt es, dass die Wende so ein Einschnitt war?

In der DDR hat die Nachkriegszeit einfach länger gedauert. Es wurde sehr vieles gelassen, wie es war. Gerade auf den Dörfern gab es viele Schuppen und komische Konstruktionen und alte Trecker, die sieht man ja jetzt noch, viel alte Technik, die ja generell schön ist. Man hat Material gehortet und irgendwie verwendet, wenn man es brauchte, man konnte ja nicht einfach zum Baumarkt fahren.

Und nach der Wende?

Da wurde alles modernisiert, und dieser ganze Prozess der Verstädterung der Dörfer rasend schnell nachgeholt. Sparka fühlt sich abgestoßen von den protzigen Fassaden, den Gärten und Zäunen aus dem Baumarkt. Andererseits fragt er sich natürlich, mit welchem Recht er das hässlich findet. Wenn die Welt so wäre, wie er sie sich wünscht, dann wäre sie ja totalitär. Gott sei Dank kann er nicht bestimmen, wie die Dinge sein müssen, denn das geht ja eigentlich immer schief. Insofern ist eigentlich das Hässliche auch wieder eine Art Indikator für Demokratie, weil die Menschen machen, was sie wollen, und nicht, was andere gut finden.

Es gab Architekten und Designer, die trotzdem versucht haben, die Menschen zu erziehen.

Der Werkbund zum Beispiel wollte den Menschen tatsächlich erklären, wie Produkte aussehen müssen, damit unsere industrialisierte Welt wieder schön wird und damit auch besser. Wenn man sich unsere Produktwelt heute anguckt, denkt man, dass man grandioser ja gar nicht scheitern konnte. Aber es wäre auch nicht auszudenken, wenn das geklappt hätte! Wir wären nicht glücklicher, sondern würden uns nach Kaputtheit sehnen und nach Hässlichkeit.

„Phlox“ ist nicht nur ein Buch übers Paradies und über die Vertreibung daraus, sondern auch über die dunklen Seiten, die dem Paradies schon immer eingeschrieben sind.

Ja, und Sparka fragt sich, warum er nie nach der Vergangenheit des Orts gefragt hat. Und jetzt stellt er fest, dass alle möglichen Dinge, die die Idylle ausmachen, auch ihren dunklen ideologischen Hintergrund haben können, von der Bienenzucht bis zum Perpetuum Mobile, das Herr Tatziet immer wieder zu bauen versucht. Man weiß, wo das hinführt, wenn Leute sich von der Welt der wissenschaftlich fundierten Tatsachen verabschieden.

Ein Onkel von Frau Tatziet ist Wandervogel. Auch so eine ambivalente Geschichte, oder?

Die Wandervogelbewegung war eine unglaubliche Erfahrung für die Jugendlichen damals. Plötzlich raus aus der Stadt, weg von den Eltern zu sein und von der Schule, auf dem Bauernhof im Stroh zu übernachten, zu quatschen, vielleicht sogar ein Mädchen oder einen Jungen kennenzulernen. Man hat sich Handwerker und Bauernhöfe angeguckt, man hat versucht, unterwegs zu zeichnen, man ist mit Menschen aus anderen Schichten zusammengekommen. Man hat vielleicht nicht einmal den Dialekt verstanden. Sie haben keine Ressourcen verbraucht. Sie haben überall angeklopft und mit Liedern bezahlt. Viele der Schriften, die von der sogenannten „Bewegung“ verfasst wurden, sind trotzdem abstoßend zu lesen, weil es ideologisch völlig verquast ist und von Anfang an das Völkische reinspielt. Man war zum Beispiel der Meinung, Juden könnten nicht durch deutschen Wald wandern und dasselbe empfinden wie Deutsche, deshalb würden sie nur mit gesenktem Blick durch den Wald huschen und sich fremd fühlen. Im Ersten Weltkrieg haben sich unzählige Wandervögel gleich in den ersten Schlachten totschießen lassen. Es heißt immer, die Bewegung sei von Hitler gleichgeschaltet worden. Aber ich glaube, da gab es nicht mehr viel gleichzuschalten.

All das ist seit der Pandemie wieder sehr aktuell geworden, oder?

Was uns heute so seltsam vorkommt, dass sich Allianzen von Völkischen und Rechten mit ökologisch Bewegten bilden, das hat in der Lebensreform seine Wurzel. Die Lebensreformer hatten alle möglichen fortschrittlichen Themen, Vegetarismus, Naturschutz, Nacktbaden, antiautoritäre Kindererziehung, also lauter tolle Sachen, die viele von uns heute unterschreiben würden. Gleichzeitig ging es gegen den Kapitalismus, und der Kapitalismus und das Urbane waren jüdisch. Ich stelle mir in „Phlox“ einfach die Frage, ob dieses böse Ende den Anfang ruiniert hat oder ob trotzdem noch was dran ist.

Darum musstest du Richard Sparka die Spuren des Zweiten Weltkriegs auch nochmal mit erwachsenen Augen sehen lassen?

Schmogrow liegt in einem Gebiet, das vom Zweiten Weltkrieg so stark betroffen war wie kaum eine Region in Deutschland. Es gibt im Oderbruch immer noch Unfälle bei Minenexplosionen und in meinem Schmogrow sieht man Einschusslöcher in der Fassade, in denen Patronen drin stecken, und man sieht im Garten immer noch Stellen, wo die Kartoffeln schlechter wachsen, weil da eine Panzerspur durchlief. Viele Orte im Oderbruch waren zu hundert Prozent zerstört, dazu kommen die Erfahrungen, die die Frauen gemacht haben, über die in der DDR nicht gesprochen werden durfte.

Das alles entdeckt Sparka ebenfalls erst im Nachhinein?

Für Kinder sind diese Sachen atmosphärisch interessant, es hat etwas, mit alten Soldatenkochgeschirren Brombeeren zu sammeln, man fühlt sich aber nicht bedroht. Als Erwachsener wird man da natürlich dünnhäutiger.

Irgendwann sagt mal eine Schwester von Frau Tatziet, dass Schmogrow nur ein Echo oder Abglanz eines Pfarrhausgartens ist, der einem Vorfahren gehörte. Wird es auch ein Echo von Schmogrow geben?

Das ist wie mit Rom, das von den Flüchtlingen aus Troja gegründet wurde, um mal bei Herrn Tatziet zu bleiben, der auch Lateinlehrer war. Ich finde es schön, wenn ich die Vergangenheit in Ritualen weiterleben lasse. Mich faszinieren vor allem die alten Techniken, die man früher beherrschte, um seinen Haushalt zu führen. Kochen macht halt glücklich. Gärtnern auch. Es stört mich, dass ich nicht tischlern kann. Alles das macht ja Spaß, es braucht nur die Zeit dafür, und man kriegt kein Geld, und wenn man die Sachen kauft, sind sie womöglich billiger. Andererseits (denkt nach)

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ja?

… andererseits fehlen bei so einer perfekten, ausgewogenen, ökologischen Welt die Brüche, wie in der schönen Welt das Hässliche fehlt. Und es hat natürlich immer etwas Antidemokratisches, sich aus der Gesellschaft rauszunehmen, auch, wenn es nur über Selbstversorgung ist. Das geht dann schnell in die Richtung: Ich brauche die Gesellschaft nicht, ich vertrau dem allen nicht, was der Staat macht. Eigentlich muss man viel stärker in die Gesellschaft reingehen, auch wenn sie einem nicht passt. Man muss durch die Schule der Auseinandersetzung mit anderen Menschen gehen.

Also lieber Urban Gardening mit den Nachbarn als allein im Umland?

Schrebergarten reicht schon, am Gartenzaun begegnen sich Menschen, die sonst kein Wort wechseln würden, und das finde ich immer gut.

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