Wahl in der Türkei: Das Ende einer Ära?

Von der Macht will Erdoğan auch nach 20 Jahren nicht lassen. Aber diese Wahl wird kein Selbstläufer, nicht nur wegen seiner sinkenden Popularität.

Frauen berühren ein Plakat von Erdogan

Istanbul sechs Tage vor der Präsidentschaftswahl: Amtsinhaber Erdoğan hat weiterhin Fans Foto: Khalil Hamra/ap

ISTANBUL taz | Seit 20 Jahren beherrscht der heute 69-jährige Recep Tayyip Er­do­ğan die Türkei. Diese Ära könnte am Sonntag zu Ende gehen. Unter TürkInnen kursiert in den vergangenen Wochen ein Spruch, der an den Beginn von Er­doğans Herrschaft erinnert und eine Erklärung für das mögliche Ende sein könnte: „Er kam mit einem Beben, und er geht mit einem Beben.“

Was wird gewählt?

Am 14. Mai stehen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der Türkei an. Es geht um 600 Plätze im Parlament. 24 Parteien sind für die Wahlen registriert und wollen über die 7-Prozent-Hürde. Bei der Präsi­dentschaftswahl treten drei Kandidaten an: neben Amts­inhaber Recep Tayyip Erdoğan von der religiös-konservativen AKP und dem Hauptkontrahenten Kemal Kılıç­dar­oğlu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP noch der Nationalist Sinan Oğan.

Was hat es mit dem zweiten Wahlgang auf sich?

Der betrifft nur die Präsidentschaftswahl. Bleiben alle Kandidaten unter 50 Prozent der Stimmen, steht am 28. Mai eine Stichwahl zwischen dem Erst- und Zweitplatzierten an. Eine einfache Mehrheit reicht dann für den Sieg. Weder Erdoğan noch Kılıçdaroğlu genügt der Rückhalt der eigenen Parteien. Darum sind beide komplizierte Wahlbündnisse eingegangen. Hinter Kılıçdaroğlu steht ein breites Bündnis aus sechs Parteien und Kur­d*in­nen sowie linke Kräften.

Wird die Fairness der Wahl kontrolliert?

Drei internationale Institutionen beobachten am Sonntag in der Türkei die Wahlen: das ODIHR, mit knapp 400 Beobach­te­r*innen, eine parlamentarische Gruppe der OSCE und eine Gruppe Par­la­men­ta­rie­r*in­nen des Europarats. (Cem)

Als Erdoğans neu gegründete AK-Parti im Herbst 2002 erstmals die Wahlen gewann und Erdoğans 2003 Ministerpräsident wurde, lag das Land wirtschaftlich am Boden. Im Sommer 1999 hatte ein schweres Erdbeben nur 100 Kilometer östlich von Istanbul 20.000 Menschen getötet und einen großen Teil der industriellen Grundlage der Türkei zerstört.

Die damals regierende fragile Koalition aus Sozialdemokraten, Kemalisten und Rechten unter der Führung des alt gewordenen Bülent Ecevit, bekam die Folgen des Erdbebens nicht in Griff, was zu einer Bankenkrise und am Ende zu einer schweren Wirtschaftskrise führte. Die Zeit war reif für einen politischen Neuanfang, und Erdoğans AKP gewann aus dem Stand heraus eine absolute Mehrheit im Parlament. Die heutige Situation in der Türkei erinnert in einigen Punkten an diese Zeit.

Die Wirtschaft ist seit Längerem in einer Abwärtsspirale, Inflation und Preisanstieg bedrohen außer den ärmeren Schichten auch den Mittelstand, und die Leute haben kaum noch Hoffnungen, dass sich das unter Erdoğan ändern könnte. Und dann kam Anfang Februar auch noch das schwere Erdbeben hinzu, bei dem Zehntausende Menschen ihr Leben verloren und eine ganze Region im Südosten der Türkei zerstört wurde.

Ein Block gegen ihn

So wenig wie Ecevits Regierung in den Jahren 1999 und 2000, bekommt die Er­do­ğan-Regierung nun die Folgen dieses Jahrhundertbebens in den Griff. Ein riesiges Gebiet vom östlichen Mittelmeerrand bis in die anatolischen Berge im Osten versinkt in völliger Hoffnungslosigkeit. Viele Menschen überleben nur durch zivilgesellschaftlich organisierte humanitäre Hilfe oder sind zu Verwandten in andere Teile des Landes geflüchtet.

Anders als im Jahr 2002 ist zwar jetzt keine ganz neue Partei am Start, aber dass enge Bündnis von sechs Opposi­tions­parteien ist durchaus ein Novum für die Türkei, in der Erdoğan in den vergangenen 20 Jahren immer wieder von einer notorisch zerstrittenen Opposition profitiert hat.

Jetzt tritt ein geschlossener Block gegen ihn an, der ideologisch von linken Sozialdemokraten über Kemalisten, Nationalisten, enttäuschte AKP-Anhänger bis zu einer kleinen islamistischen Partei reicht. Im Wahlkampf zeigt dieses Bündnis eine große Geschlossenheit und hat darüber hinaus auch noch die Unterstützung der kurdischen HDP, die ebenfalls zur Wahl des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu aufruft.

Millionen von Menschen landeten erstmal in Slums

Ein Wahlsieg der Opposition entspräche aber auch den langfristigen soziologischen Trends der Türkei. Um die Jahrtausendwende befand die Türkei sich in einer völlig anderen Situation als heute. Ab den 1970er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte im Land eine regelrechte Völkerwanderung eingesetzt.

Noch Mitte der 1960er Jahre lebten 70 Prozent aller TürkInnen auf dem Land und nur 30 Prozent in der Stadt. Istanbul hatte 1965 nur 1,5 Millionen Einwohner. Heutzutage hat Istanbul zwischen 16 und 18 Millionen EinwohnerInnen und insgesamt leben nur noch 30 Prozent der TürkInnen auf dem Land, alle anderen sind in die Städte, überwiegend in die Metropolen eingewandert.

Diese Millionen von Menschen, die ihre Dörfer verließen und auf der Suche nach Arbeit in die Metropolen zogen, landeten dort erst einmal überwiegend in den Slums der Außenbezirke. Sie waren arm und kulturell blieben sie zunächst weiterhin im Dorf.

Noch stärker an Religion klammern

Weil sie sonst nichts hatten, klammerten sie sich stärker an die Religion und den religiösen Habitus, als sie es in den Dörfern zuvor getan hatten. Erdoğans Familie war genau eine dieser nach Istanbul eingewanderten Dorffamilien, und Erdoğan wurde zum Helden und Role-Model dieser BinnenmigrantInnen, die Ende der 1980er Jahre die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten.

Erdoğan wurde der Präsident dieser Leute, und weil er wenigstens in den ersten Jahren seiner Herrschaft auch für deren wirtschaftliche und kulturelle Interessen eintrat und ihre Si­tua­tion spürbar verbesserte, wurde er ihr Held, dem sie jedes Wort glaubten und deren Gefolgschaft auch durch alle politischen Wendungen ihres „Reis“ (Führers) nicht erschüttert wurde.

Mittlerweile hat sich die soziologische Situation der türkischen Gesellschaft aber verändert. Die Kinder und Enkel der ehemaligen Landbevölkerung, die in die Metropolen gewandert ist, sind heute selbstverständlicher Teil der städtischen Gesellschaft. Sie haben sich modernisiert und stellen andere Ansprüche als ihre Eltern und Großeltern. Blinde Gefolgschaft für einen politischen Führer ist nicht mehr selbstverständlich, und auch die „religiöse Generation“, die Erdoğan vom türkischen Bildungssystem gefordert hatte, sind sie nicht geworden.

Viele junge Menschen lehnen ihn ab

Der ganz überwiegende Teil der ErstwählerInnen und WählerInnen unter 30 lehnt Erdoğans autoritären Stil, sein patriarchales Gehabe und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit heute ab. Hinzu kommt, dass Erdoğan seit der Niederschlagung des Gezi-Aufstands 2013 und der folgenden Stagnation der Wirtschaft immer weniger zu verteilen hat. Statt das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen – wie von ihm versprochen – von 10.000 auf 20.000 Dollar zu steigern, ist es wieder deutlich unter 10.000 Dollar abgerutscht.

Seit er 2014 erstmals Präsident wurde, werden die noch vorhandenen Profite mehr und mehr nur noch auf Erdoğans Clique verteilt, was natürlich auch seine WählerInnen zu spüren bekommen. Um seine Macht dennoch zu sichern, hat Erdoğan die Repression seit dem Putschversuch 2016 deutlich ausgeweitet. Es betrifft jetzt nicht mehr nur Kurden, Aleviten, regierungskritische Journalisten und die LGBTIQ- Community, sondern jeden politischen Abweichler, auch aus den eigenen Reihen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Alles zusammen hat dazu geführt, dass Erdoğans Popularität seit Jahren schrumpft. Das deutlichste Zeichen dafür, dass seine Ära zu Ende geht, waren die Kommunalwahlen 2019. Seine AKP verlor nicht nur in Istanbul und Ankara, sondern in den neun größten Städten des Landes.

Die Bürgermeister dieser Metropolen sind so etwas wie die hiesigen Ministerpräsidenten. Sie unterstützen den Oppositionskandidaten Kılıç­dar­oğlu, allen voran Ekrem İmam­oğlu aus Istanbul und Mansur Yavaş aus Ankara. Er­doğans scheinbare Allmacht erodiert schon länger, das Erdbeben könnte jetzt für sein politisches Aus der letzte Anstoß gewesen sein.

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