AfD stellt erstmals Landrat: Schock im Landkreis Sonneberg

Der AfD-Kandidat Robert Sesselmann hat die Stichwahl im thüringischen Sonneberg gewonnen. Die demokratischen Parteien sind entsetzt.

Wahlplakat der AfD im Landkreis Sonneberg mit der Aufschrift :Der Osten steht auf

Sonneberg hat gewählt: AfD gewinnt Stichwahl Foto: dpa

LEIPZIG taz | Um zwanzig vor acht – das Ergebnis der Stichwahl um den neuen Landrat im südthüringischen Landkreis Sonneberg steht gerade fest –, hat Heidi Büttner es noch nicht realisiert. Die 60-Jährige, die für die Grünen im Sonneberger Kreistag sitzt, hatte bis zum Schluss gehofft, dass der CDU-Kandidat Jürgen Köpper das Rennen um den Landratsposten macht.

„Ich habe mich noch gar nicht mit dem Gedanken befasst, dass die AfD das Amt des Landrats übernimmt“, sagt Büttner mit brüchiger Stimme am Telefon. Sie spricht langsam und klingt so, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. Während des Telefonats ringt die Grünen-Politikerin immer wieder um Worte. „Wir sind ziemlich geschockt.“

Heidi Büttner hat die Auszählung der Stimmen im Sonneberger Gesellschaftshaus verfolgt – jenem Ort, wo die ehemals vier Land­rats­kan­di­da­t:in­nen am 1. Juni vor knapp 500 Zu­schaue­r:in­nen in einem Wahlduell gegeneinander antraten. Weil das Medieninteresse an der Stichwahl so groß war, hatte das Sonneberger Landratsamt die Präsentation der Wahlergebnisse vom Sitzungssaal des Landratsamtes in das Gesellschaftshaus verlegt. Vor allem Jour­na­lis­t:in­nen hätten an der Veranstaltung teilgenommen, erzählt Büttner, aber auch Bür­ge­r:in­nen und Politiker:innen. „Etliche waren schwer betroffen und sind erstmal nach Hause gegangen.“

Die gemeinsame Kandidatin der Linken und Grünen schied bereits im ersten Wahlgang aus. „Wir haben im Wahlkampf gemerkt, dass ganz viele Leute Zukunftsängste haben und denken, dass sowieso alles den Bach runtergeht“, sagt Büttner. Das spiegele sich jetzt in dem Wahlergebnis wider.

AfD-Kandidat kommt auf fast 53 Prozent

Der AfD-Kandidat Robert Sesselmann, der schon im ersten Wahlgang vor zwei Wochen mit 46,7 Prozent die meisten Stimmen bekam, hat die Stichwahl mit 52,8 Prozent gewonnen. Jürgen Köpper von der CDU erhielt 47,2 Prozent – 5,6 Prozentpunkte weniger als Sesselmann.

Die Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang war mit 59,6 Prozent höher als im ersten. Von den knapp 48.000 Wahlberechtigten hatten im ersten Durchgang vor zwei Wochen nicht mal die Hälfte (49,1 Prozent) ihre Stimme abgegeben. Sonneberg liegt ganz im Süden von Thüringen an der Grenze zu Bayern, knapp 57.000 Menschen leben dort. Es ist der kleinste und einwohnerschwächste Landkreis in ganz Ostdeutschland.

Die AfD hat es in den vergangenen zwölf Monaten in Ostdeutschland schon öfters in Stichwahlen geschafft, sowohl bei Landrats- als auch bei Bürgermeisterwahlen. Gewinnen konnte die extrem rechte Partei bisher aber nie – was auch daran lag, dass sich die demokratischen Parteien fast immer zusammengetan und zur Wahl des AfD-Konkurrenten aufgerufen haben, nach dem Motto: gemeinsam gegen die AfD.

Auch in Sonneberg haben die Kreisverbände der Linken, Grünen und SPD den Kandidaten der CDU unterstützt, selbst Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) warb für Köpper. Gereicht hat der Schulterschluss der demokratischen Parteien diesmal nicht. Die AfD hat ihr lang ersehntes Ziel, ein Amt auf kommunaler Ebene zu erlangen, erreicht. Sie stellt mit Robert Sesselmann nun erstmals einen Landrat in Deutschland.

Keine Berührungsängste mit Björn Höcke

Sesselmann, 50 Jahre, ist in Sonneberg etabliert und als Rechtsanwalt angesehen. Er sitzt für die AfD im Thüringer Landtag, im Sonneberger Kreistag sowie im Stadtrat der gleichnamigen Kreisstadt. Die Thüringer AfD wird vom Landesverfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuft und beobachtet.

Vom AfD-Landeschef, dem Rechtsextremisten Björn Höcke, grenzt Sesselmann sich nicht ab. Auf Facebook postet er Fotos mit Höcke, vor einer Woche haben die beiden zusammen Wahlkampf in Piesau gemacht, einer kleinen Gemeinde im Landkreis. Sesselmann, der sich im Vergleich zu Höcke eher moderat präsentiert, hat im Wahlkampf auf bundespolitische Themen gesetzt – auf Themen also, auf die er als Landrat gar keinen Einfluss hat.

Sesselmann will zum Beispiel aus dem Euro austreten, die Russlandsanktionen aufheben, die Abschiebung „krimineller“ Geflüchteter beschleunigen, „sichere Grenzen“ und ein Ende der „linksgrünversifften Verbotspolitik“. Er spricht von „grün-gelb-rot-schwarzen Enteignungsphantasien“ und von „Altparteien“.

Seiner Meinung nach sollten Geflüchtete Sachleistungen statt Geld bekommen, schließlich sei Deutschland nicht das „Weltsozialamt“. Geflüchtete zu Fachkräften auszubilden, hält Sesselmann für „unsinnig“, da diese ja vielleicht nur vorübergehend in Deutschland bleiben wollten.

AfD feiert Sesselmanns Sieg als Meilenstein

Die AfD feiert Sesselmanns Sieg als Meilenstein auf dem Weg zur Normalisierung. Parteichefin Alice Weidel twitterte, Robert Sesselmann habe „Geschichte geschrieben“, ihr Kollege Tino Chrupalla schrieb: „Das war erst der Anfang.“

Thüringens AfD-Landeschef Björn Höcke teilte mit, dass von Sonneberg ein „politisches Wetterleuchten“ ausgehe. Man wolle diesen Schwung mitnehmen für die kommenden Landratswahlen und sich dann auf die Landtagswahlen vorbereiten, wo man ein „politisches Erdbeben“ im Osten erzeugen könne. Im Herbst 2024 finden in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Landtagswahlen statt. Auf der AfD-Wahlparty in Sonneberg sagte Sesselmann, dass die AfD „auf dem Weg zur Volkspartei“ sei.

Der unterlegene CDU-Kandidat Jürgen Köpper bezeichnete den Wahlausgang als „enttäuschend“ und sprach von einem schlechten Tag für den Landkreis und für Thüringen. „Trotz einer höchst engagierten Arbeit von unzähligen Wahlhelfern haben die Sonneberger heute anders entschieden“, sagte Köpper. Noch vor dem ersten Wahlgang hatte der 57-Jährige mitgeteilt, dass er einen Sieg der AfD für „nicht unwahrscheinlich“ halte.

Köpper war von März 2021 bis heute amtierender Landrat. Er wurde nicht gewählt, sondern hat den erkrankten Landrat Hans-Peter Schmitz (parteilos) vertreten. Im März 2023 wurde Schmitz in den Ruhestand versetzt. Regulär wäre seine Amtszeit erst am 30. Juni 2024 zu Ende gegangen. Daher fand vorzeitig eine Neuwahl statt.

Alarmsignal für alle demokratischen Kräfte

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) betonte im ZDF, dass Sonneberg eine „wirtschaftlich sehr starke und prosperierende Region“ mit guter Lohnentwicklung sei. „Trotzdem haben die Sonneberger für sich entschieden, dass sie ein Signal an die ganze Republik senden wollen, dass ihnen viele Dinge einfach nicht gefallen.“ Über Robert Sesselmann sagte Ramelow, dass er einen Wahlkampf gemacht habe, „der mit den Themen eines Landrates gar nichts zu tun hat“.

Sesselmann habe nun das Vertrauen bekommen. Der neue Landrat werde nachweisen müssen, dass er bewege, was der Landkreis brauche. „Er führt eine Verwaltung“, betonte Ramelow. Im Hinblick auf kommende Wahlen sagte der Ministerpräsident: „Ich glaube, wir müssen den Geist der deutschen Einheit neu definieren, dass wir die Ostdeutschen mitnehmen und nicht das Gefühl auslösen, dass über sie gelacht wird oder über sie nur geredet wird.“

Thüringens Innenminister und SPD-Vorsitzender Georg Maier bezeichnete das Wahlergebnis als „Alarmsignal für alle demokratischen Kräfte“. Christian Herrgott, Thüringens CDU-Generalsekretär, sagte: „Mit dem Wahlergebnis ist klar, dass jetzt wir alle die Aufgabe haben, Lösungen gegen diese Art des Protestes gegen Berlin zu finden.“

Die Sprecherin der Thüringer Grünen Ann-Sophie Bohm teilte mit, der Sieg des AfD-Kandidaten lasse sie „fassungslos“ zurück. „Die Mehrheit derjenigen, die zur Wahl gegangen sind, haben den Kandidaten einer rechtsextremen Partei gewählt, deren politische Agenda die gesellschaftliche Spaltung ist.“ Sie versicherte, dass die Thüringer Grünen mit Sesselmann „auf keiner Ebene“ zusammenarbeiten würden.

Irreparabler Imageschaden für Sonneberg

Christian Schaft, der Vorsitzende der Linken in Thüringen, twitterte: „Wut & Empörung mischen sich mit dem Wissen, dass dieses Ergebnis nicht vom Himmel fiel. Das vermeintliche Rezept der Übernahme der Rhetorik eines rechten Kulturkampfes zahlt weiter nur auf das Konto der AfD als ‚Original‘ ein und nun schauen viele einige Tage nach Sonneberg.“ Aber sobald die Aufmerksamkeit sinke, fürchtet Schaft, werde „eine gefährliche Normalisierung fortschreiten“.

Nancy Schwalbach sprach von einem „Tiefschlag für die Demokratie“. Die gemeinsame Landratskandidatin der Grünen und Linken schied im ersten Wahlgang mit 4,4 Prozent aus. „Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt“, sagte sie gegenüber der taz. „Die demokratischen Parteien haben das Problem der Unzufriedenheit der Bür­ge­r:in­nen nicht wahrhaben wollen.“

Philipp Müller, Linken-Abgeordneter im Sonneberger Kreistag, hat nicht mit einem so deutlichen Ergebnis gerechnet. „Ich hätte schon gedacht, das wir nach dem niederschmetternden ersten Wahlgang die Kräfte auf der demokratischen Seite gebündelt bekommen“, sagte er am Telefon. „Ich bin mehr als schockiert, dass über 14.000 Menschen hier im Landkreis offensichtlich kein Problem damit haben, einen Kandidaten einer erwiesen rechtsextremistischen Partei zu wählen.“

Müller zufolge habe der AfD-Wahlerfolg einen „irreparablen Imageschaden für den ganzen Landkreis“ verursacht. Der 26 Jahre alte Linken-Politiker fürchtet, dass sich keine Firmen mehr in Sonneberg ansiedeln und weniger Tou­ris­t:in­nen dort Urlaub machen würden. In den sächsischen Städten zum Beispiel, in denen jeden Montag große Pegida-Demos stattfanden, sei das Image heute noch geschädigt, sagte Müller.

AfD im Kreistag aktuell drittstärkste Kraft

Der Rechtsextremismus-Experte David Begrich schrieb auf Twitter, die AfD werde versuchen, mehr aus dem Sonneberger Ergebnis zu machen, als es ist. Zugleich zeichne sich ab, dass möglicherweise weitere gewonnene Stichwahlen in weiteren Regionen die Normalisierung der AfD stabilisieren und ein politischer Gewöhnungseffekt eintreten würde. Statt den Blick nur auf die AfD zu richten, müsse „das ganze mehrdimensionale Ökosystem rechter Hegemonie“ gerade in Ostdeutschland angeschaut und verstanden werden, sagte Begrich.

Wie viel Macht hat der neue AfD-Landrat in Sonneberg? Als Vorsitzender des Kreistags kann er zwar eine gewisse Richtung vorgeben, am Ende entscheidet er aber nicht alleine, was im Landkreis passieren soll, sondern muss umsetzen, was der Kreistag beschließt. Das heißt: Je mehr Abgeordnete Sesselmann auf seiner Seite hat, desto größer sein Einfluss.

Aktuell ist die AfD mit neun Sitzen die drittgrößte Fraktion im Kreistag. Die CDU sowie die Fraktion Linke/Grüne haben jeweils zehn Sitze, die Fraktion Pro LK Son/FPD hat sieben, die SPD drei. „Die Mehrheit im Kreistag hat Gott sei Dank noch das demokratische Spektrum“, sagte Linken-Abgeordneter Müller. „Wir werden den AfD-Landrat sehr kritisch beäugen.“

Allerdings sieht es so aus, als würde sich die Zahl der AfD-Abgeordneten im Sonneberger Kreistag künftig eher vergrößern als verkleinern. Denn 2024 finden neben der Landtagswahl auch Kommunalwahlen in Thüringen statt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die AfD dann Sitze dazugewinnt.

Landrat an „Recht und Gesetz“ gebunden

Darüber hinaus ist es die Aufgabe des Landrates, Vorgaben von Land und Bund umzusetzen – zum Beispiel Geflüchtete aufzunehmen und zu versorgen. Weigern kann sich Sesselmann nicht. Hingegen hat er Einfluss darauf, wie die Geflüchteten untergebracht werden, etwa in Gemeinschaftsunterkünften, privaten Wohnungen, Turnhallen oder Zelten.

Der Deutsche Landkreistag hat nach der Landratswahl in Sonneberg betont, dass alle Land­rä­t:in­nen an Recht und Gesetz gebunden seien. „Als Wahlbeamter ist Herr Sesselmann auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung verpflichtet“, teilte Landkreistag-Präsident Reinhard Sager am Sonntagabend mit.

Die Landratswahl in Sonneberg hatte deutschlandweit für Aufmerksamkeit gesorgt. Die AfD steht in Umfragen so gut da wie zuletzt 2018. Im aktuellen Deutschlandtrend der ARD kommt sie auf 19 Prozent, damit liegt sie auf Platz zwei hinter der Union. In den ostdeutschen Bundesländern erzielt die Partei noch höhere Werte. Wäre in Thüringen am Sonntag Landtagswahl, käme die AfD laut Insa-Umfrage von April 2023 auf 28 Prozent und wäre damit stärkste Kraft.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.