Streit um Krisenverordnung: Deutschland lenkt im Asylstreit ein

Die Bundesregierung wird der umstrittenen Krisenverordnung der EU zustimmen. Doch einige Details sind noch unklar, die Verhandlungen dauern an.

Vier Migranten warten mit Gepäck und Kindern auf dem Rücken an einer Mole auf Lampedusa

Die europäische Krisenverordnung ist für Amnesty International „Verrat an den Rechten von Menschen auf der Flucht“. Hier Migranten auf Lampedusa Foto: Cecilia Fabiano/dpa

BERLIN taz | Deutschland stimmt einer geplanten Änderung des Europäischen Asylrechts samt der umstrittenen Krisenverordnung zu. Das hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD) bei einem Treffen mit ihren Amts­kol­le­g*in­nen in Brüssel erklärt. „Obwohl wir noch weiteren Änderungsbedarf hätten und auch darüber hinaus, werden wir heute unserer Verantwortung gerecht“, sagte Faeser am Donnerstag zum Auftakt der Verhandlungen.

Die Krisenverordnung, mit der sich die EU gegen eine neue Flüchtlingskrise wappnen will, war bisher ein Streitpunkt in Brüssel. Die deutsche Außenministerin Annalena Bearbock (Grüne) hatte sich noch am Montag öffentlich dagegen ausgesprochen und gesagt, sie ziehe in der Sache mit Faeser an einem Strang.

Bei einer Pressekonferenz mit dem italienischen Außenminister erklärte Baerbock am Donnerstag, die deutschen Vorschläge seien über Monate nicht aufgenommen worden. Nun hätten Faeser und sie ihre „Anliegen zu Humanität und Ordnung“ in den aktuell debattierten Kompromissvorschlag der EU-Ratspräsidentschaft hineinverhandelt. Sie hoffe, dass es dafür eine Mehrheit geben werde. Nach taz-Informationen geht es dabei unter anderem um die Absenkung von Mindeststandards bei der Unterbringung Geflüchteter. Der Ausgang der Verhandlungen war zu Redaktionsschluss noch unklar.

In der Vergangenheit hatte Faeser erklärt, die deutsche Zustimmung zur Krisenverordnung an Bedingungen knüpfen zu wollen. Für die Bundesregierung sei wichtig, dass ein Mitgliedsland im Ausnahmefall „nicht leichtfertig in Anspruch nimmt, dann Standards abzusenken“. Zuerst müssten alle nationalen Maßnahmen ausgeschöpft sein. Wie das zu verhindern sein könnte und wer genau darüber entscheiden soll, ist aber noch nicht ganz klar.

Grüne dementieren Machtwort

Mehrere Medien hatten am Mittwoch berichtet, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) habe in der Kabinettssitzung am Mittwoch ein „Machtwort“ gesprochen, um den Streit in der Koalition über die umstrittene Krisenverordnung zu beenden. „Wir werden das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem verabschieden, das einen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen vorsieht“, erklärte Scholz am Donnerstag in einem Interview in der Wirtschaftswoche. Dies sei „ein Wendepunkt“ in der Asylpolitik.

Viele Grüne dementieren allerdings, dass es dieses Machtwort des Kanzlers gegeben habe, und sind empört, dass das nun öffentlich anders dargestellt werde. Ein solches Verhalten „ohne Rücksicht auf den Koalitionspartner“ werfe „grundlegende Fragen auf, wie eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit diesem Kanzler aussehen soll, der offenbar versucht, seine Innenministerin zu schützen“, heißt es aus der Bundestagsfraktion.

Es habe zwar Fortschritte in die richtige Richtung gegeben, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt. „Unterm Strich ist das aber trotzdem kein gutes Ergebnis.“ In den weiteren Verhandlungen mit dem EU-Parlament müsse der Rat sich noch einmal deutlich bewegen: „Die Antwort der EU auf Krisensituationen können doch nicht Massenhaftlager für Männer, Frauen und Kinder sein“, sagte Marquardt der taz.

Es müsse um eine faire Verteilung innerhalb der EU gehen, statt durch noch schlechtere Bedingungen an den Außengrenzen dafür zu sorgen, dass mehr Menschen weiter nach Deutschland fliehen müssen. Marquardt kritisierte auch den Kanzler: „Am Vorabend der Verhandlungen zu verkünden, dass man sowieso zustimmen wird, stärkt nicht gerade die deutsche Verhandlungsposition“, so Marquardt.

Die Krisenverordnung fasst verschiedene Pläne zusammen, die in Ausnahmesituationen an den Außengrenzen gelten sollen. Konkret benannt werden „Krisensituationen“, Fälle „höherer Gewalt“ und Situationen, in denen Geflüchtete von anderen Staaten instrumentalisiert werden. Also etwa Situationen, in denen in kurzer Zeit viele Geflüchtete in der EU Asyl beantragen oder wie an der polnischen Grenze im Winter 2021, als das Regime in Belarus Geflüchtete über die EU-Grenze schickte, um politischen Druck auszuüben. In solchen Situationen sollen nach der Krisenverordnung Mindeststandards abgesenkt werden und Regeln ausgesetzt werden können.

Men­sch­recht­le­r*in­nen sind entsetzt

So sollen unter bestimmten Umständen sehr viel mehr Geflüchtete sehr viel länger in die umstrittenen Prüfverfahren genommen werden können, die an den EU-Außengrenzen geplant sind. In Krisenfällen soll das Geflüchtete aus Staaten mit einer Anerkennungsquote bis 75 Prozent betreffen, im Instrumentalisierungsfall sogar alle. Die Verfahren sollen zudem auf bis zu 20 Wochen verlängert werden können. Das soll auch für unbegleitete Kinder und andere besonders vulnerable Gruppen gelten, für die es ansonsten eigentlich Ausnahmeregelungen gibt.

Auch die Mindeststandards für die Unterbringung Geflüchteter sollen in solchen Situationen deutlich niedriger sein. Außerdem ist gar die Möglichkeit vorgesehen, Geflüchtete an der Grenze einfach abzuweisen, ihnen also ihr Recht auf Asyl schlicht zu verwehren.

Kri­ti­ke­r*in­nen bemängeln nicht nur, dass damit die Rechte der Geflüchteten drastisch eingeschränkt werden und ihnen großes Elend droht, sondern auch, dass damit eine Art dauerhafter Ausnahmezustand an den Außengrenzen zementiert würde. Zudem könnte die Verordnung es Staaten wie Griechenland ermöglichen, Pushbacks einfacher zu legitimieren und zu verschleiern. Solche Aktionen, bei denen Geflüchteten das Asylrecht verweigert wird und sie zurückgezwungen werden, sind klar illegal.

Pro Asyl zeigte sich entsetzt über den Kurswechsel der Bundesregierung. Ihre Zustimmung in Brüssel „wäre ein Geschenk für die rechten Hardliner in Europa“, erklärte die Organisation. „Dass der Bundeskanzler nun die Zustimmung erzwingt, zeigt, dass in der Bundesregierung menschenrechtliche Erwägungen nichts mehr zählen sollen.“

Kritik von links und rechts

Die Vize-Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, Julia Duchrow, sprach von „Verrat an den Rechten von Menschen auf der Flucht“. Die Pläne würden „die bestehenden Herausforderungen der europäischen Asylpolitik nicht lösen, sondern weiter verschärfen und den rechtsstaatlichen Zerfall der Europäischen Union vorantreiben“.

Auch die Linke im Bundestag kritisierte den deutschen Kurswechsel scharf. Dieser werde damit begründet, dass es endlich ein gemeinsames und einheitliches europäisches Asylsystem brauche, sagte deren fluchtpolitische Sprecherin Clara Bünger. Dabei gebe es diese längst, es werde nur von vielen Staaten unterlaufen. „Statt sich für die Einhaltung der bestehenden Gesetze einzusetzen, trägt die Bundesregierung nun dazu bei, dass deren Unterschreitung legalisiert wird“, so Bünger.

Scharfe Kritik an den Änderungen des Europäischen Asylrechts übte aber auch der ungarische Regierungschef Viktor Orbán. „Brüssel will uns den gescheiterten Migrationspakt vor den kommenden Europawahlen (im Juni 2024) in den Rachen schieben“, kritisierte er im Kurzbotschaftendienst X, ehemals Twitter. Ungarn hatte mit Polen und weiteren Ländern zuletzt auch gegen den Krisenmechanismus gestimmt.

Aktualisiert am 28.09.2023 um 16:09 Uhr. d. R.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.