Krieg im Gazastreifen: Umstrittene Zukunftsszenarien

Die israelische Regierung spricht in einem Dokument von einer Umsiedlung der Menschen aus Gaza auf die Sinai-Halbinsel. Das wird scharf kritisiert.

Männer in orangenen Westen und mit Lampen vor zerstörten Gebäuden bei Nacht

Suche nach Überlebenden: Palästinensische Rettungskräfte in Gaza-Stadt am 30. Oktober Foto: Mutasem Murtaja/reuters

BERLIN taz | Die israelische Regierung hat in einem internen Dokument ein Szenario durchgespielt, das an Traumata in der palästinensischen Bevölkerung rührt und auch international auf viel Ablehnung stößt. In dem Dokument wird diskutiert, wie die mehr als zwei Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Gazastreifen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel angesiedelt werden könnten. Für Ägypten ist dies ein Angstszenario.

Das zehnseitige Dokument wurde zuerst von dem israelischen Nachrichtenportal Sicha Mekomit veröffentlicht. Verfasst wurde es israelischen Medienberichten zufolge im Auftrag des Geheimdienstministeriums. Es ist auf den 13. Oktober datiert, also wenige Tage nach dem Großangriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen. Das Büro von Regierungschef Benjamin Netanjahu bestätigte die Existenz des Dokuments am Montag, spielte seine Bedeutung aber herunter. Es handele sich um ein Arbeitsdokument, „wie es auf allen Ebenen der Regierung und ihrer Sicherheitsorgane verfasst wird“.

Da die Umsetzbarkeit fragwürdig ist, kann man tatsächlich davon ausgehen, dass es sich nur um grobe Überlegungen handelt. Die Ver­fas­se­r*in­nen schlagen vor, die Zivilbevölkerung Gazas offenbar noch während der Kriegshandlungen in Zeltstädten auf der Sinai-Halbinsel anzusiedeln und später dauerhafte Städte und einen nicht näher definierten humanitären Korridor zu errichten.

Zentral scheint die Errichtung einer Sicherheitszone zu sein, die die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen auf dem Sinai von Israel fernhalten würde. Die derzeit noch in Gaza herrschende Hamas, die Unterstützung in der Bevölkerung genießt, hat die Vernichtung Israels zum Ziel. Israel will die Terrororganisation komplett zerstören, hat aber noch keine konkreten Pläne für Gaza nach einem Sturz der Hamas vorgestellt.

Eine Grafik von Israel und dem Gaza-Streifen
Erinnerung an ein Trauma

Die Reaktionen auf das geleakte Dokument ließen nicht lange auf sich warten: Eine Massenvertreibung wäre „gleichbedeutend mit der Ausrufung eines neuen Kriegs“, sagte Nabil Abu Rudeineh, Sprecher des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, der Nachrichtenagentur AP. „Wir sind gegen einen Transfer an irgendeinen Ort und betrachten dies als rote Linie. Was 1948 geschehen ist, darf sich nicht wiederholen.“

Schon vor Bekanntwerden des Papiers und seit Beginn der Bombardierung Gazas infolge des Hamas-Massakers hatte sich unter Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen das Narrativ verbreitet, dass sich die „Nakba“ (Katastrophe) von 1948 wiederholen könnte. So bezeichnen Araber*in­nen die Flucht und Vertreibung von rund 750.000 Menschen im Zuge der Staatsgründung Israels. Überlegungen über einen Bevölkerungstransfer erinnern in der palästinensischen Gesellschaft an ein Trauma, das in vielen Familien über Generationen hinweg weitergegeben wurde.

Ägypten reagierte zunächst nicht auf das Arbeitspapier. Kairo lehnt eine Ansiedlung von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Ägypten jedoch strikt ab. Präsident Abdel Fattah al-Sisi hatte sich zwei Jahre nach der Revolution von 2011 gegen eine von der islamistischen Muslimbruderschaft geführte Regierung an die Macht geputscht. Seitdem geht er rigoros gegen Dis­si­den­t*in­nen vor, vor allem gegen die Muslimbruderschaft.

Die Hamas ist einst aus der Islamistenorganisation hervorgegangen. Dass unter Geflüchteten aus Gaza auch Sym­pa­thi­san­t*in­nen der Hamas und Muslimbruderschaft wären, wäre nicht zu vermeiden. Kairo kommuniziert diese Sorge allerdings nicht offen, sondern schiebt das Argument vor, dass eine Aufnahme von Menschen aus Gaza der nationalen palästinensischen Sache abträglich sein würde.

Bemerkenswert an dem Arbeitspapier sind die Anmerkungen zu einer Umsetzung des Plans: Die Ver­fas­se­r*in­nen räumen ein, dass der Vorschlag international nicht auf Akzeptanz stoßen werde. Aber: „Nach unserer Einschätzung würden die Kämpfe nach der Evakuierung der Bevölkerung zu weniger Opfern unter der Zivilbevölkerung führen, als dies bei einem Verbleib der Bevölkerung zu erwarten wäre.“ Offenbar sehen sich die Ver­fas­se­r*in­nen in einem Dilemma zwischen Vertreibung und hohen zivilen Opferzahlen.

Weiteres Szenario mit der PA

Neben dem Ägypten-Plan wird in dem Papier ein weiteres Szenario erwähnt. Demnach könnte die im Westjordanland herrschende Palästinensische Autonomiebehörde (PA) nach einem Sturz der Hamas auch im Gazastreifen regieren. Dies wird jedoch verworfen, da die Ver­fas­se­r*in­nen die PA nicht für fähig und gewillt halten, Angriffe auf Israel zu verhindern. Ein Machttransfer an die PA würde einen „Sieg der palästinensischen Nationalbewegung“ darstellen, „einen Sieg, der Tausende von israelischen Zivilisten und Soldaten das Leben kosten wird“.

Kürzlich hatte auch der Regierungschef der PA, Mohammad Schtajjeh, sich dagegen ausgesprochen, dass die PA in absehbarer Zukunft Gaza regiert. Dies komme nicht infrage, solange es keine politische Lösung für das Westjordanland und einen eigenen palästinensischen Staat gebe, so Schtajjeh gegenüber dem Guardian.

Aus palästinensischer Sicht dürften die Berichte über das Arbeitspapier auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Westjordanland gelesen werden. Dort vollzieht sich seit Langem ein Paradigmenwechsel, der sich im Dezember auch im Koalitionsvertrag der israelischen Regierung niederschlug. Darin reklamiert sie ein „exklusives Recht“ des jüdischen Volkes auf das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer. Netanjahu hatte zuvor bereits eine Annexion des Westjordanlands versprochen, dies allerdings nie umgesetzt.

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