Roman „Die Regeln des Spiels“: Der friedfertige Händler von Harlem

In Colson Whiteheads neuem Roman wird der Protagonist zum Komplizen bei einem Raub- und Mordzug. Der Autor romantisiert das Ganoventum.

Portrait von Colson Whitehead

Der Autor Colson Whitehead Foto: Anni Agren/Lehtikuva/imago

Ray Carney ist ein prinzipiell sympathischer Protagonist. Das versteht sich nicht von selbst, denn er ist nicht nur ein Gauner und Hehler, sondern zudem auch etwas zu gut bekannt mit Leuten, die weitaus schlimmere Dinge tun, als gestohlenes Gut zu verticken. Colson-Whitehead-LeserInnen wiederum kennen Ray Carney bereits aus dem Roman „Harlem Shuffle“, der in den sechziger Jahren spielte und den (Anti-)Helden Carney einführte als einen, der eigentlich ganz gern ehrbar leben würde, sich aber durch die Umstände gezwungen fühlt, nebenher noch was zu verdienen.

Im neuen Roman „Die Regeln des Spiels“ laufen die Geschäfte in Carneys ganz legalem Möbelladen so gut, dass er sich inzwischen hat leisten können, von kriminellen Nebentätigkeiten Abschied zu nehmen. Wir sind in den siebziger Jahren angekommen, der Schauplatz ist derselbe geblieben: Harlem, mit Carneys Möbelgeschäft als Mittelpunkt der Handlung.

Colson Whitehead: „Die Regeln des Spiels“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser Verlag, München 2023, 384 S., 26 Euro

Doch setzt diese just mit einer Episode ein, in der Carneys Ehrbarkeit abrupt wieder endet, aber eigentlich gegen seinen Willen. Um seine Kinder mit Karten für ein begehrtes, notorisch ausverkauftes Baseballspiel überraschen zu können, kontaktiert er einen seiner weniger sympathischen Bekannten: einen durch und durch korrupten weißen Polizisten, an den Carney seit Langem Schmiergeld abzudrücken pflegt.

Heiße Ware verticken

Dieser Munson kennt Gott und die Welt. Er verspricht die Tickets zu besorgen, allerdings nur für einen Gegen­gefallen, denn er braucht einen Abnehmer für heiße Ware. Und schon ist Carney nicht nur wieder im Geschäft, sondern mehr noch: Ehe er sich versieht, wird er zu Munsons Geisel und Komplizen bei einem sagenhaften Raub- und Mordzug, den der Bulle in einer Nacht durch Harlem unternimmt.

Denn eine interne Untersuchung steht ihm bevor; und da er rein gar nichts mehr zu verlieren hat, macht er keine Gefangenen. Außer Carney natürlich, der gezwungen wird, ihm Rückendeckung zu geben. Wie um alles in der Welt kommt ein prinzipiell friedfertiger Möbelhändler aus dieser Sache heraus?

Kleiner Spoiler: Die Episode geht für den Antihelden glimpflich aus, sonst wäre der Roman ja auch zu schnell zu Ende. „Episode“ ist ein wichtiges Stichwort, denn mit „Episodenhaftigkeit“ ist die Grundform dieses Romans recht gut beschrieben. Es ließe sich leicht eine Miniserie in drei Folgen daraus machen; die Hauptfigur und der Fortgang ihrer Geschäfte würden für die notwendige übergreifende Handlungsklammer sorgen.

Jedoch werden nicht alle Episoden aus Carneys Perspektive erzählt. Ein weiterer wichtiger Perspektivträger ist Pepper, ein knallharter Typ, der schon für Carneys nicht nur halb kriminellen Vater gearbeitet hat. Auch für den Sohn erledigt Pepper Dinge, die der nicht selbst machen will, und durch Carneys Vermittlung wird er Ausputzer für eine Filmproduktion, bei der nicht alles rund läuft und deren Regisseur ein Exzentriker ist, der seine künstlerische Ader einst nicht filmisch, sondern durch allerlei Zündeleien auszudrücken pflegte.

Macht, Geld, Verbrechen

Das wäre die zweite Episode. Die dritte handelt schließlich von sehr realen Brandstiftungen – und nicht zuletzt von der Verquickung von Macht, Geld und Verbrechen. In Nebenrollen treten ein Politiker auf, der Bezirksbürgermeister von Harlem werden will, und Carneys Ehefrau, die für ihn in den Wahlkampf zieht.

Alle anderen, hier nicht genannten Figuren – und es gibt sehr viele davon – sind wahnsinnig schwer auseinanderzuhalten. Das liegt nicht nur an der Episodenhaftigkeit des Ganzen, sondern auch daran, dass das geschilderte Milieu so einebnend wirkt. Es ist ein im Grunde nicht wenig klischeehaftes Harlem der Schwarzen Ganoven, das Whitehead uns vorführt. Manche der Halunken tragen Anzug, andere nicht, bei manchen sitzt das Schießeisen locker, andere prügeln sich lieber, kriminell bis zur Halskrause sind sie alle.

Atmosphärisch ist das insgesamt durchaus gelungen, reicht aber nicht für überdurchschnittlichen Lektüre-Mehrwert. Die meisten Charaktere sind nicht interessant genug, und die vermutlich kunstvoll gemeinte Verplaudertheit des Ganzen lähmt früh jede Hoffnung darauf, dass der sich ungehemmt zu allerlei Abweichungen schlingende Erzählfaden sich irgendwann zu einem echten Finale schürzen würde. Dass das am Ende dann doch noch passiert, ist fast eine Überraschung.

Aber es liegt auch eine gewisse Enttäuschung darin, dass man nach der romanlangen Romantisierung des Ganoventums, das ja durch die Hauptfigur ein, wie erwähnt, durchaus sympathisches Gesicht trägt, am Schluss als implizite Moral von der Geschicht’ ein „Unrecht Gut gedeiht nicht“ mit nach Hause nehmen muss.

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