Neuer „Tatort“ aus Stuttgart: Ungelebtes Leben

Zwei großartige Mimen in einer dichten Geschichte: „Vergebung“ ist ein „Tatort“ wie man ihn lang nicht gesehen hat – und zeugt von Schwäbischheit.

Filmszene aus dem Tatort "Vergebung" mit Jürgen Hartmann

Ein Ereignis: Jürgen Hartmann als Daniel Vogt im Tatort „ Vergebung“ Foto: Benoit Linder/SWR

Der gediegenste Polizeinebendarsteller im deutschen Fernsehen, Uwe Preuss, hat in der taz mal vom „Drahtseilakt“ gesprochen, den die tragende Rolle selbst in einem TV-Krimi bedeute. Wenn man so einen 90-Minüter versemmle, dann müsse man lange warten, bis Gras über die Sache gewachsen sei und man wieder zum Zug käme, „sonst sagen die Leute: Ach, der ist das, den guck ich mir gar nicht erst an.“

Jürgen Hartmann spielt seit 15 Jahren den Rechtsmediziner Dr. Daniel Vogt im Stuttgarter Tatort und war damit auf der sicheren Seite. Nun, in der Folge „Vergebung“, steht seine Figur im Mittelpunkt, zurückgehend auf eine Plotidee von Hartmann selbst; und man darf sagen: Das Risiko hat sich gelohnt. Jürgen Hartmann ist in diesem Tatort ein Ereignis, insbesondere im Wechselspiel mit Dr. Vogts tragischer Jugendliebe Sandra Döbele (Ulrike C. Tscharre).

Die beiden ziehen ein schmerzhaftes Spiel des über Jahrzehnte Unausgesprochenen und Ungelebten auf, das sich tief in die Mimik gebrannt hat; und das Ganze ist dabei von so zurückhaltend-extrem-bornierter-gieriger Schwäbischheit wie vielleicht sonst nur ein Auftritt von Winfried Kretschmann bei einer Pressekonferenz, wenn er sich mal wieder über seine Grünen aufregt. Regionalität kommt eben nicht von Hubschrauberflügen über blühende Landschaften, Regionalität kommt von innen, aus den Menschen.

Die Geschichte ist, dass Dr. Vogt eine Leiche auf den Tisch gestemmt bekommt, die er kennt. Ein Jugendfreund ist aus dem Wasser gezogen worden, ertrunken ja, aber es gibt Zweifel bei der Fremdeinwirkung, der Mann war sterbenskrank, nahm das Teufelszeug Fentanyl und hat Alkohol im Blut.

„Vergebung“, So., 20.15 Uhr, ARD

Metaphysischer Strudel

Seine Frau Sandra kommt zur Identifizierung vorbei und lädt Daniel ein, doch mal zum Kaffee bei ihr im Dorf vorbeizuschauen, wo alle aufgewachsen sind, nach 30 Jahren Nichtkontakt. Dass zwischen den beiden mehr läuft, dass nicht schon hier die Kommissare Lannert und Bootz die Reißleine ziehen und Vogt von dem Fall entbinden, dass sich die Story also sozusagen dumm stellt, um den Spannungsbogen in die Länge zu ziehen, ist einerseits handwerklich schlecht und bleibt kein einzelner Ausrutscher.

Später nämlich wird Vogt zum Urort des Geschehens, einem verwunschenen Badesteg zurückkehren, auf dessen Bedeutung gleichzeitig und unabhängig von ihm auch die Kommissare gestoßen sind. Vogt versteckt sich, wird von Bootz aber auf dem Handy angerufen und schafft es, von diesem nicht gehört zu werden, obwohl die Entfernung nur ein paar Meter beträgt – auch das definitiv unglaubwürdig, wie dann manche Gespräche zur Zwischenergebniszusammenfassung in Lannerts Porsche dramaturgisch schwach sind und nach Redakteurseinmischung klingen („Der normale Zuschauer kommt sonst nicht mit.“).

Macht aber alles nichts. Denn „Vergebung“, dieses melodramatische TV-Märchen, entwickelt einen metaphysischen Strudel, der pseudorealistische Bedürfnisse und Sehgewohnheiten schnell und porentief wegsaugt. Das hat das Drehbuchteam Katharina Adler und Rudi Gaul, der auch Regie führt, verstanden. Herausgekommen ist ein Film, der in seiner Thematik vollkommen zeitgenössisch ist, der aber ganz auf die existenziellen Schlüsselbegriffe Scham und Begierde baut und dafür Menschen und Tableaus findet, die einen lange Zeit nicht mehr loslassen.

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