Die Wahrheit: Anballersse

Für manche mag es purer Kitsch sein, für Ostwestfalen ist das Lieblingsessen zu Weihnachten bei Muttern das reine Tor zur Glückseligkeit.

Sonntag ist es soweit: Heiligabend. In diesem Jahr werden mein Bruder und ich bei unserer Mutter Ilse zu Gast sein. Mein Bruder darf sich das Essen wünschen, denn er wohnt „außerhalb“. Mein Bruder ist „Besuch“. Ich nicht. Es kommt also etwas auf den Tisch, was nicht mein Lieblingsessen ist. Es wird auch mir schmecken, es wird mir sogar gut schmecken, aber es ist nicht mein Lieblingsessen.

Das ist überhaupt das Brutalste an der Vorstellung des Todes. Eines Tages, wenn meine Mutter mal nicht mehr sein wird, dann werde ich nie wieder ein Essen essen, das so schmecken wird, wie von ihr gemacht. Mütter-Essen ist einmalig. Ich habe schon versucht, ihre Rezepte nachzukochen, aber es gelingt mir nicht. Andererseits hat sie inzwischen schon zwei Mahlzeiten in ihrem Repertoire, bei denen sie etwas von mir nachkocht. In der Familie ist das eigentlich mein größter Erfolg. So sehr akzeptiert bin ich mit nichts anderem.

Ich vermute, mein Bruder wünscht sich Sahneschnitzel. Das ist schon ein Kompromiss von ihm, reine Brüderliebe, denn am liebsten würde er sich Hühnerfrikassee wünschen, aber das esse ich nicht. Ich hatte mir Bottermelk-Anballersse gewünscht. Buttermilch-Kartoffel-Eintopf. Eigentlich kann man über Anballersse nur auf Plattdeutsch sprechen: „Use Mudder koaket datt wie keine annere.“

Wenn meine Mutter Anballersse kocht, bekommt sie von mir sämtliche Mützen und Sterne, die für Kochkunst im Spitzenbereich vergeben werden können. Das sei doch kein Weihnachtsessen, sagt sie. Und: Mein Bruder isst das nicht, damit war es sowieso raus.

Kartoffeln, Zwiebeln, durchwachsener Speck würfeln oder in die Küchenmaschine. „Oder im Fleischwolf?“, frage ich. Ilse streng: „Datt bierten moaket man nich in dän Fleichwulf, datt lohnt datt ganze Upwasken nich.“ Kartoffeln kochen, abgießen, mit Buttermilch auffüllen, aufkochen lassen, andicken und ständig rühren. Die wichtigste Regel: „Gümmer ümmerühr’n“!

Damit es eben nicht „anballert“, damit es nicht anbrennt. Und: „Das Wichtigste sind Speck und Zwiebeln, sonst hat das keinen Geschmack.“ Dann also den ausgelassenen Speck hinein, umrühren und dann ist das Essen eigentlich schon fertig. Über diese Delikatesse hieß es vor Jahren im Kutenhauser Dorfkalender: „Däne loppt schon dat Woater in’n Muule tehope, wenn se dat Wuad nur höät.“

Noch schöner als das Festessen ist an Weihnachten aber der Süßigkeitenteller. Dieses Füllhorn der Glücksseligkeit öffnete „use Mudder“ für uns drei, Vater, Bruder und mich. Für uns, nicht für sie. Ihrer war nur spärlich gefüllt, „wegen der Figur“. Oder weil sie einfach nie gelernt hatte, sich selbst auch Gutes zu tun. Wir kamen nie auf Idee, einen für sie anzurichten.

Auf unsere Weihnachtsteller „zum Schlickern“, wie das in Ostwestfalen heißt, freuen wir uns noch heute fast mehr als auf jedes Lieblingsessen.

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Der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking steht seit über zwanzig Jahren auf der Bühne. Er schreibt Kolumnen für die »Wahrheit«-Seite der »taz«, Kinderhörspiele für den WDR Hörfunk sowie Bücher – und die am liebsten über Finnland: »Finne Dich Selbst!« und »Das kuriose Finnland-Buch«, alle erschienen im Fischer Verlag. Wenn er nicht schreibt, dann tourt er mit seinen Kabarettprogrammen »Gefühlte Dreißig«, »Finne Dich Selbst!« sowie - jeweils in den Wintermonaten - mit seinem alljährlichen satirischen Jahresrückblick »Ab dafür!« durch die Republik.

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kari

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