Zum Tod von Ivan Ivanji: „Ich bin Literat“

Er überlebte den Holocaust, aber das Wort „Zeitzeuge“ mochte Ivan Ivanji nicht. Nun ist er im Alter von 95 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

Ivan Ivanji

Ivan Ivanji im Sommer vorigen Jahres bei einer Lesung in Weimar Foto: Thomas Müller/imago

Das Leben des Ivan Ivanji war von Anfang bis Ende das eines epochalen Romans über das euro­päische 20. Jahrhundert: Holocaust-Überlebender, Schriftsteller, Dichter, Übersetzer, Diplomat, Titos Dolmetscher, Theaterintendant, Journalist, Essayist und bis zu seinem letzten Lebenstag der Erinnerung und Mahnung an den Horror des Faschismus verpflichtet. Am Tag des Siegs über den Faschismus, am 9. Mai, ist der große europäische Intellektuelle nun 80 Jahre nach seiner Deportation in das KZ Buchenwald in Weimar verstorben.

1929 wurde Ivanji im serbischen Zren­janin als Kind einer säkularen jüdischen Familie geboren. Seine Eltern wurden 1941 von Nazis ermordet, er selbst floh zu Verwandten nach Novi Sad und wurde 1944 zunächst ins Konzentrationslager Auschwitz, dann über einige Außenlager nach Buchenwald deportiert. Der 95-Jährige, der in Belgrad und Wien lebte, war wie immer zu den Gedenkfeiern nach Weimar eingeladen worden, wo er in diesem Jahr am 8. Mai von Kulturstaatsministerin Claudia Roth empfangen wurde, das Museum für die Zwangsarbeiter des Nationalsozialismus eröffnet und die Ausstellung „Bauhaus und National­sozialismus“ besucht hatte.

Das Interesse an Deutschland und der deutschen Sprache und Kultur hatte ihm der NS nicht nehmen können. Ivanji war mit deutscher Kultur aufgewachsen. Ivanjis Eltern waren in Deutschland ausgebildete Ärzte, die mit ihren Kindern Deutsch, Serbisch und untereinander Latein sprachen. „Mein Deutsch ist besser als mein Serbisch“, sagte er mir vor ein paar Jahren in einem Interview für die taz, und dass er seit geraumer Zeit jedes Jahr zwei Romane schreibe, einen auf Deutsch und einen auf Serbisch.

Nach seiner Rückkehr nach Belgrad 1945 hatte Ivanji Germanistik und Architektur studiert, ging zum Theater, übersetzte Günter Grass, Heinrich Böll, Bertolt Brecht ins Serbische, Danilo Kiš ins Deutsche und arbeitete gemeinsam mit dem jugoslawischen Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić im jugoslawischen Schriftstellerverband als Sekretär. Er gründete eine Wochenzeitung und war als Journalist und Essayist für das bis heute existierende serbische Politikmagazin Vreme tätig, aber auch für den Spiegel, den WDR und als Korrespondent für die taz.

Egal worüber er sprach, über Politiker, Künstler, Nazis oder sich selbst, immer endete die Geschichte mit einer ironischen Pointe

In den 1970er Jahren wurde er unter Tito, dem Präsidenten der sozialistischen Republik Jugoslawiens, Kulturattaché der jugoslawischen Botschaft in Bonn und Berater im jugoslawischen Außenministerium. Ivanji war bei der Gründungskonferenz der KSZE 1975 in Helsinki und 1979 bei der Konferenz der Blockfreien-Bewegung in Havanna dabei, und er war 15 Jahre lang Titos Dolmetscher.

Über diese Zeit hat er ein Buch gleichnamigen Titels verfasst, in dem er seine Begegnungen mit den deutschen Politikern wie Willy Brandt, ostdeutschen wie Erich Honecker und österreichischen wie Kurt Waldheim beschreibt. Selbst in diesem nichtliterarischen Werk erkennt man die große Beobachtungsgabe, das detailgenaue Interesse und das feine politische und menschliche Gespür eines großen europäischen Bürgers des 20. Jahrhunderts. Dazu gehörte auch, dass er der serbischen Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Aleksandar Vučić verweigerte, ihm persönlich zum 90. Geburtstag zu gratulieren. „Den Vučić mag ich ganz und gar nicht“, sagt er mir damals. „Mit dem würde ich gern lieber nirgendwo erscheinen.“

Jeder, der das Glück hatte, mit Ivan Ivanji persönlich sprechen zu können, war begeistert. Nicht nur wegen seines überragenden Erzähltalents und der Fülle an historischer Erfahrung, sondern auch, weil Ivanji ein überaus höflicher, immer wacher und inspirierender Gesprächspartner war und vor allem einen äußerst feinen, immer präsenten Humor hatte. Egal worüber er sprach, über Politiker, Künstler, Nazis oder sich selbst, immer endete die Geschichte mit einer ironischen Pointe. In den letzten Jahren bekannte er öfter, dass er es ein bisschen leid sei, immer wieder über den Holocaust sprechen zu müssen. Es ginge doch darum, dem Slogan „Nie wieder“ einen Sinn zu geben und das bedeutete für Ivanji beispielsweise, dem Schicksal der ertrinkenden Kinder im Mittelmeer nicht länger zuzugucken.

„Zeitzeuge“ war für ihn ein abscheuliches Wort

Weil sich der Holocaust-Überlebende aber auch der Geschichte gegenüber verpflichtet fühlte, kam er dennoch jeder Einladung nach, über seine Erfahrung zu sprechen. Nur als eines wollte er lieber nicht bezeichnet werden: als „Zeitzeuge“. „Was für ein abscheuliches Wort“, sagte er selbstverständlich lächelnd. Auf die Frage wie er sich selbst bezeichnen würde, antwortete er mir damals: „Ich bin Literat. Aber der einzige Titel, den ich offiziell tragen darf, ist Diplombautechniker.“

Ivanji hat über 20 Romane veröffentlicht, die meisten handeln vom Holocaust. Als sein eigentliches literarisches Vermächtnis aber bezeichnete er seine Kaiser-Trilogie: Romane über die römischen Herrscher Diokletian, Konstantin und Julian.

Über den jugoslawischen Staatslenker Tito jedoch hat Ivanji keine Biografie verfasst. Doch in seiner kleinen, mit Büchern vollgestopften Wohnung stand auf einem Wohnzimmertischchen ein kleines gerahmtes Tito-Porträt mit persönlicher Widmung. Ivanji, Zeit seines Lebens ein liberaler Freigeist, sah sich selbst nur in einer Hinsicht als Ideologen: als Anhänger Jugoslawiens. Er bezeichnete Tito als aufgeklärten Diktator und sagte mir damals typisch augenzwinkernd: „Gut, er war immer ein wenig overdressed. Aber im Großen und Ganzen ließ es sich gut und glücklich leben in seinem Staat.“

Auch Ivan Ivanji war natürlich ein Mann seiner Zeit. Er liebte gute Anzüge, gute Hotels, gutes Essen, höfliche Kellner, hübsch gekleidete Frauen und gut frisierte Enkelinnen. Er konnte über Goethe genauso ausführlich und in aller Genauigkeit sprechen wie über die Beschaffenheit, die das Fleisch haben muss, um zu Čevape verarbeitet zu werden, so wie über die Eignung von Obstsorten für guten Schnaps, den er stets jedem Gast servierte, der auf seinem Wohnzimmersofa saß.

Der bis zuletzt wie ein kleiner Junge mit ewigem Lächeln im Gesicht wirkende Ivanji war abgesehen von seiner Haltung zu Titos Jugoslawien immer darum bemüht, nach der ganzen Wahrheit zu suchen. Trotz seines beeindruckenden Gedächtnisses betonte Ivanji immer wieder, ganz redlicher Intellektueller, große und starke Zweifel an seiner Erinnerung zu haben. Und dass das einer der Gründe sei, so viel zu schreiben. Der Historiker und ehemalige Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, ein Freund Ivanjis, interpretierte dessen unermüdliches Schreiben als Kunst der Scheherazade: „Geschichten erzählen, die den Tod für eine Nacht aufhalten, und noch eine und noch eine.“ Ivanji deutete sein eigenes Tun wie immer nüchterner: „Ich schreibe, um zu unterhalten.“

Der Text „Wieso ich mich wieder als Jude fühle“ von Ivan Ivanji auf der Titelseite der wochentaz vom 14.10.2023​

Ivanjis letzter Roman liegt fertig lektoriert bei seinem Verlag und erscheint in den nächsten Wochen. Insgesamt umfasst sein literarisch-publizistisches Werk über 150 bibliografische Angaben – worin Zeitungsartikel nicht mal eingeschlossen sind.

In der taz veröffentlichte er zuletzt nach dem Massaker der Hamas in Israel 2023 zwei Texte, die für großes Aufsehen sorgten. Er schrieb darin: „Ich habe immer gesagt: Für Hitler bin ich Jude, aber auch sonst bin ich mit ihm nicht einer Meinung. Doch jetzt, nach der blutrünstigen Orgie, die die Mörderbande der Hamas am 7. Oktober begangen hat, ist es anders: Ich fühle mich zum ersten Mal seit meiner Befreiung aus dem Konzentrationslager vor 78 Jahren als Jude.“

Der Ehrenbürger von Weimar

Dass er jedes Jahr zu den Gedenkfeiern nach Deutschland eingeladen wurde, hatte er mal in seiner unnachahmlichen Art so kommentiert: „Ich habe lebenslänglich Buchenwald bekommen. Es ist für mich zur zweiten Heimat geworden“. 2019 verlieh ihm Ministerpräsident Bodo Ramelow bei der Feier seines 90. Geburtstags in Belgrad den Thüringer Verdienstorden, ein Jahr später wurde Ivanji Ehrenbürger von Weimar.

Am vergangenen Mittwoch, am 8. Mai, dem Tag der Niederlage Nazi-deutschlands, hatte er im Nationaltheater aus seinem Buch „Buchstaben aus Feuer“ gelesen. Der Roman hat die Geschichte des Buchenwald-Häftlings und späteren DDR-Architekten Franz Ehrlich zur Grundlage, der die Inschrift des Lagers „Jedem das Seine“ gestalten musste. Ehrlich verstirbt im Roman bei einem Besuch der Gedenkstätte Buchenwald.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Ivanji ging nach getaner Arbeit am 9. Mai, so wie er es immer machte, in Goethes Lieblingsrestaurant Zum weißen Schwan. Dort aß er genüsslich Spargel, trank einen Weißwein und ließ sich dann von seinem Sohn Andrej zum Hotel Elephant begleiten, dem Hotel, in dem nicht nur Goethe, sondern auch Hitler gern übernachtet hatte. Er zog seinen Pyjama an und schlief ein. Sein Sohn wollte ihn morgens zum Frühstück abholen, aber Ivan Ivanji sollte nicht mehr aufwachen.

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