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„Ab jetzt nehme ich mein Leben selbst in die Hand.“ Sainab blickt in die Zukunft Foto: Adam Barwinski

Flucht nach DeutschlandEntkommen aus dem belarussischen Grenzwald

Sainab floh vor Islamisten in Somalia und strandete zwischen Belarus und Polen. Die 18-Jährige erlebte Gewalt und Pushbacks. Es lässt sie nicht los.

I n der Küche ihrer Leipziger Wohngruppe rührt Sainab in ihrem Müsli mit Naturjogurt und Blaubeeren, ihre hüftlangen, schwarzen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Gerade erst ist die 18-Jährige von dem ersten gemeinsamen Urlaub mit ihrer WG und den Be­treue­r:in­nen zurückgekommen. Begeistert erzählt sie vom Campen in Thüringen. Dann schlägt ihre Fröhlichkeit plötzlich um. „Eigentlich hatte ich Angst davor. Vor dem Zelten im Wald.“ Sainab zögert, zieht das Wort „Wald“ in die Länge. Vor ihrer Flucht aus Somalia hatte sie einen solchen noch nie gesehen.

Drei Monate steckte Sainab, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will, im belarussisch-polnischen Grenzwald fest. Ohne Schlafsack oder Zelt, ohne Essen oder sauberes Trinkwasser. Das Einzige, was sie dabei hatte, war ein Handy und ein Gebetsbuch, das ihre Mutter ihr mitgegeben hatte.

Es ist ihr erster Flug, als Sainab im März 2023 in Mogadischu ins Flugzeug nach Moskau steigt. Die damals 16-Jährige weiß weder, wo genau Russland liegt, noch dass sie anschließend zwei grüne Grenzen überqueren werden muss. Sie weiß nur eines: Das Flugticket ist die letzte Chance, um ihr Leben zu retten.

Sainab wächst als Älteste von sechs Kindern in einer Kleinstadt in Südsomalia auf. Ihre Eltern sind einfache Leute, ihr Vater arbeitet für einen örtlichen Bauern, ihre Mutter kümmert sich um die Kinder. Frauen ist es in der männerdominierten Gesellschaft nicht erlaubt zu arbeiten. Töchter werden oft im Teenageralter verheiratet und haben dem Mann zu gehorchen.

Doch Sainabs Eltern sind anders. Sie sind stolz auf die Erstgeborene, die bereits als Fünfjährige so viel wissen will, dass sie ihr erlauben, zur Grundschule zu gehen. „Ich habe die besten Eltern der Welt“, sagt Sainab immer und immer wieder im Laufe des langen Gesprächs im Aufenthaltsraum ihrer Leipziger Wohngruppe. „Sie gaben mir von Anfang an das Gefühl, dass ich alles schaffen kann.“ Ein Grundschulbesuch ist für Mädchen offiziell zwar nicht verboten, doch nur selten schicken Eltern ihre Töchter in der von der islamistischen Al-Shabaab-Terrormiliz kontrollierten Kleinstadt hin.

Verfolgt, weil sie zur Schule ging

Sainab überspringt direkt die erste Klasse, dennoch bleiben ihre Noten überragend. Sie liebt es einfach, immer mehr dazuzulernen. Doch der Schulweg macht ihr Angst. „Eigentlich sollen Mädchen und Frauen stets zu Hause sein. Doch ich war nicht nur jeden Morgen außer Haus, ich ging auch noch zur Schule“, erzählt sie. Spätestens mit Abschluss der 8. Klasse soll damit Schluss sein, das Terrorregime toleriert keine weiterführende Schule für Mädchen. Doch Sainabs Eltern wissen um den starken Willen ihrer Tochter. Über Bekannte gelingt es, dass Sainab ein Stipendium für ein Internat erhält, das im benachbarten und progressiveren Somaliland vom SOS-Kinderdorf betrieben wird. Sainabs Heimweh ist riesig, denn die neue Schule ist zu weit weg, um die Familie zu besuchen. Gleichzeitig liebt die 11-Jährige das Internatsleben, saugt Mathe, Englisch und Naturwissenschaften in sich auf.

„Für mich war das wirklich alles einfach nur magisch. Ich war so glücklich, zur Schule gehen zu können.“ Das Internat ist international geführt, manche Lehrer kommen aus Kenia, Äthiopien oder auch Indien, nachmittags gibt es viele zusätzliche Lern-Clubs. „Das ganze Internatsgelände war wie ein geschützter Raum“, erinnert sich Sainab. Jedoch derart geschützt, dass sie das Internatsgelände im Gegensatz zu ihren männlichen Mitschülern nicht verlassen darf.

Nach vier Jahren kommt sie das erste Mal heim, mit einem international anerkannten Abitur in der Tasche. Lange liegen ihre Eltern und sie sich in den Armen. Doch gleichzeitig denkt sie: „Wie kann es hier jemals für mich weitergehen?“ Während ihrer Internatsjahre stand mehrmals die Al-Shabaab-Miliz vor der Tür ihrer Eltern, fragten, wo die Tochter sei. Der Vater behalf sich mit der Lüge, Sainab sei bei ihrer Großmutter und gehe dort auf eine Koranschule.

Sainab wird zunehmend wütender. „Ich konnte all das nicht mehr akzeptieren.“ Wie können Frauen hier nur so leben, denkt sie. Es ärgert sie, wie viele von ihnen weder schreiben noch lesen können und gibt heimlich Unterricht. Das geht nicht lange gut. „Al-Shabaab weiß einfach alles über einen. Als Strafe haben sie mich entführt“, sagt Sainab kurz und gerät ins Stocken. Sie fixiert den Kickertisch vor sich und schildert in nur wenigen Sätzen von Misshandlungen in der Gefangenschaft. „Doch schlimmer als die Schläge waren die Worte.“ Die ständigen Drohungen sollen ihr klar machen: Als Frau bist du nichts wert. Die Entführer wollen Sainab zwangsverheiraten und auch einen „Fehler“ der Eltern korrigieren, die ihre Tochter – wie in Somalia weiterhin üblich – zwar beschnitten hatten, sich jedoch für die leichteste Variante entschieden hatten. „Zum Glück gelang mir rechtzeitig die Flucht.“

Als sie nachts bei ihren Eltern auftaucht, können sie es zunächst kaum glauben, ihre Tochter lebendig vor sich zu sehen. Noch in dieser Nacht fasst der Vater den Entschluss: Sainab muss fliehen. Bereits wenige Stunden später klettert er mit seiner Tochter auf die Ladefläche eines Transporters, versteckt unter Kisten mit Obst und Gemüse. Nach einer Tagesreise erreichen sie Mogadischu, wo ein Bekannter der Familie bereits ein Flugticket gekauft und die weitere Flucht organisiert hat. Wie ferngesteuert steigt die damals 16-Jährige in das Flugzeug.

Wie Ware habe sie sich gefühlt

Auf dem Flughafen in Moskau ist sie das erste Mal von weißen Menschen umgeben. Irritiert starrt sie auf all die Schilder in kyrillischer Schrift, die sie nicht entziffern kann. Vom Flughafen aus geht es mit weiteren, ebenfalls gerade gelandeten So­ma­lie­r:in­nen in Minibussen weiter. Wie Ware habe sie sich gefühlt, sagt Sainab. Während der Fahrt spricht keiner, außer der Schmuggler, die jedoch meist schreien. „Dawai“ ist das einzige russische Wort, an das sich Sainab aus dieser Zeit erinnert. „Los, schnell!“ Immer wieder werden die Minibusse gewechselt, zwischendrin muss die Gruppe durch Wälder laufen und zu Fuß einen Fluss überqueren. Heute weiß Sainab, dass sie damals irgendwo die Grenze zu Belarus überquert haben muss.

Nach weiteren Fahrten wird die Gruppe wieder in einem Wald ausgesetzt, wieder heißt es „dawai“. Sainab trägt nur eine dünne Jacke, viel zu kalt für einen osteuropäischen März im belarussischen Wald, wo noch lange kein Frühling ist. Als die So­ma­lie­r:in­nen einen Stacheldraht erreichen, hebt ein Schmuggler ihn hoch, dann gelangt die Gruppe in eine Grenzsperrzone, die alle nur „Sistema“ nennen, das System. „Das ist der Moment, wo du eine Realität kennenlernst, von der du vorher nicht die leiseste Ahnung hattest.“ Sainab trifft hier auf mehrere Dutzende gestrandete Geflüchtete, weitere Somalier:innen, aber auch Afghan:innen, Äthio­pie­r:in­nen und Syrier:innen. Die Lage in dem von belarussischen Soldaten kontrolliertem Gebiet ist desaströs.

Stacheldraht und eine meterhohe Mauer: die Grenze zwischen Polen und Belarus Foto: Adam Barwinski

Es beginnt ein ewiges Warten auf einen Übertrittsversuch über die polnische Grenze, eine fünf Meter hohe Stahlmauer mit Gitterstäben und Stacheldraht. Sainab bleibt bei den anderen Somalier:innen, mit denen sie an die Grenze gebracht wurde, zwei weitere Frauen und fünf Männer, die jetzt eine zufällige Schicksalsgemeinschaft bilden. Von ihrem Lager aus hat Sainab Blickkontakt mit den polnischen Soldaten, die bewaffnet mit Maschinengewehren fast rund um die Uhr Patrouille laufen. „Es ist der trostloseste Ort der Welt. Jede und jeder im Sistema hat Schrecklichstes in der Heimat erlebt“, sagt Sainab. Doch das sei den Soldaten völlig egal gewesen – auf beiden Seiten der Grenze. Sainab beobachtet, wie Geflüchtete am Grenzzaun die polnischen Soldaten um Asyl bitten, daraufhin aber mit Pfefferspray abgewehrt werden.

Auch sieht sie, wie polnische Grenzpolizisten eine kleine Tür in der Stahlmauer aufschließen und Mi­gran­t:in­nen gewaltsam nach Belarus zurückdrängen. Sie lernt eine weitere Somalierin kennen, die sich beim Sprung von der Grenzmauer das Bein gebrochen hatte. „Doch die polnischen Grenzpolizisten hätten sie nur angeschrien, sie solle zurück nach Belarus.“ Aufgrund des Beinbruchs hätte sie aber gar nicht laufen können. „Da haben sie ihr aufgeholfen, sie gestützt, damit sie laufen kann – und sie dann nach Belarus abgeschoben.“

Kein Essen, zu trinken nur Flusswasser

Das sei eine dieser Geschichten, sagt Sainab, die sie nicht vergessen könne. „In der Schule habe ich viel über Europa gelernt.“ Doch das ist nicht das Europa, wie sie es aus Büchern kennt. „Wie können diese polnischen Soldaten einfach nur dastehen und selbst Familien mit Babys nicht durchlassen? Was sind das für Menschen?“ Sainab fragt sich, „wenn ich nicht nach Somalia zurückkann und die EU mich nicht aufnimmt, wo gehöre ich dann hin?“

Als einer der Schmuggler nach etwa zwei Monaten plötzlich bei der somalischen Gruppe auftaucht, ist Sainab total geschwächt. Tagelang hat sie nichts gegessen und nur verdrecktes Flusswasser getrunken. Nachts schläft sie kaum, aus Angst vor den belarussischen Soldaten, aber auch den vielen männlichen Migranten.

„Der Schmuggler sagte: ‚Schnell, beeilt euch! Ihr müsst jetzt über die Grenze!‘“ Als sie an der aufgestellten Leiter ankommen, heißt es, die Mädchen gehen zuerst. Nachdem das erste Mädchen rübergeklettert ist, ist Sainab an der Reihe. Doch die Männer aus ihrer Gruppe stoßen sie weg. „Jeder wollte der Erste sein.“ Machtlos sieht Sainab zu, klettert schließlich als Letzte die fünf Meter hohe Mauer hoch und rutscht auf der polnischen Seite an die Gitterstäben geklammert wieder herunter. Schnell blickt sie an ihrem Körper hinab und stellt erleichtert fest: Alles noch da, nichts gebrochen. Dann schaut sie sich um – und sieht niemanden. Ihre Gruppe ist bereits weitergerannt.

In Sainab steigt Verzweiflung auf. Und Panik. Sie muss schnell sein und sich verstecken. Nach zwei Monaten im belarussischen Grenzwald und den Berichten der Gestrandeten im Sistema ist ihr klar, dass jetzt ein Pushback wahrscheinlicher ist, als ein erfolgreiches Asylgesuch. Sainab ist totmüde und dennoch rennt sie so schnell sie kann in den Wald hinein. „Nur noch dieses kleine Stück“, motiviert sie sich.

Im Herbst 2024 besuchte Sainab noch einmal den Wald, in dem sie monatelang festhing – diesmal von der polnischen Seite aus Foto: Adam Barwinski

Doch plötzlich wird der Waldboden morastig. Ihre Beine bleiben immer wieder stecken und sie muss nach jedem Schritt ihr Bein jeweils wieder aus dem Sumpf ziehen. Als dieser ihr bis zur Hüfte reicht, hievt sie sich völlig erschöpft auf einen umgefallenen Baum. „Ich hatte keine Kraft mehr, für gar nichts. Nicht fürs Weitergehen, nicht fürs Weinen und erst recht nicht mehr fürs Denken.“ Sainab ist komplett durchnässt, doch das Handy ist trocken geblieben. Zum ersten Mal seit zwei Monaten schaltet sie es ein. Jetzt ist es das Kostbarste, was sie besitzt.

Flüchtlingshelferinnen retten Sainab

Sie tippt einen Hilferuf per SMS an die polnische Flüchtlingsorganisation Grupa Granica, von der Geflüchtete zuvor erzählt hatten. Die Antwort kommt schnell. Sainab gibt ihre GPS-Koordinaten und ihren Gesundheitszustand durch. Während sie da auf diesem Baum sitzt und die Nacht einbricht, sieht sie, wie ihre Beine weiß anlaufen. Sie spürt sie nicht mehr.

Kasia A.* (Name geändert) kann sich noch ganz genau an diese Nacht erinnern. Seit 2021 ist die Polin als Flüchtlingsaktivistin im Grenzwald im Einsatz, doch das Frühjahr 2023 war besonders herausfordernd. „Es gab so viele Migranten, es war schlichtweg Wahnsinn.“ Als Sainabs Hilferuf eingeht, hat Kasia A. bereits vier Tage hintereinander kaum geschlafen. Gemeinsam mit einer weiteren Aktivistin geht sie ins Lager, packt einen Rucksack mit Kleidung, Schuhen, Suppe, Wasser und Powerbanks. Es dauert viele Stunden, bis sie Sainab erreichen, denn der Sumpf macht auch ihnen ziemlich zu schaffen. „Wie sie da ganz allein auf diesem Baumstumpf lag, das werde ich nie vergessen“, erzählt Kasia A., damals 29 Jahre alt. Die jungen Frauen umarmen sich fest und weinen.

Die Aktivistinnen ziehen Sainab um und geben ihr heißen Tee aus einer Thermoskanne, an dem sie ganz vorsichtig nippt. „Ich hatte ganz vergessen, wie das ist, etwas Warmes zu trinken. Mein Körper kannte nur noch Kälte.“ Die beiden Aktivistinnen, eine von ihnen Ärztin, versorgen Sainabs Wunden und vor allem ihre sogenannten Grabenfüße, eine schmerzhafte Gewebeschädigung verursacht durch Kälte und Feuchte, benannt nach ähnlichen Erkrankungen von Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sich diese häufig in den schlammigen Gräben zugezogen hatten. Der Weg hinaus aus dem Sumpfgebiet ist elendig weit, doch die Somalierin schöpft neuen Mut. „Sainab war so besonders“, erinnert sich Kasia A. In perfektem Englisch habe sie sich ständig mit „I can make it“-Sprüchen motiviert und Lieblingslieder gesunken. „Es war der einzige Moment in all den Wochen, in denen ich menschlich behandelt wurde“, erzählt Sainab, die bis heute engen Kontakt zu Kasia A. hält.

Doch als sie den Sumpf endlich hinter sich haben, ist sie zunächst wieder auf sich allein gestellt. „Das ist immer der härteste Moment“, sagt Kasia A. „Als Helferinnen können wir die Menschen nur versorgen.“ Hilfe ist schließlich nicht illegal. Doch alles Weitere, wie beispielsweise eine Autofahrt ins nächste Dorf, könnte als Schmuggleraktivität ausgelegt werden, auf die in Polen bis zu 5 Jahre Gefängnis steht. Die 16-Jährige ist also wieder allein, doch zumindest hat sie trockene Kleidung sowie Essen und Trinken für ein paar Tage. Nach etwa zwei weiteren Wochen gelingt es ihr, den letzten Schmuggler zu kontaktieren. Am Treffpunkt trifft sie auf zwei weitere Frauen, mit denen sie quer durch Polen gefahren und schließlich an einer Brücke ausgesetzt wird. Der Fahrer zeigt auf die andere Seite, nach Deutschland. Sainab rennt so schnell sie kann, um schließlich, nach drei Monaten, zusammenzubrechen.

Hoffen, dass die Familie nachkommt

Ob sie von der Somalierin gehört habe, die im Mai dieses Jahres in Deutschland um Asyl gebeten hatte und an der Grenze abgewiesen wurde? Sainab nickt. „Das hätte ich sein können. Sie soll 16 sein, genauso alt wie ich damals war.“ Sie sei einfach nur froh, dass sie es zu einem Zeitpunkt nach Deutschland geschafft habe, wo „die politische Situation noch nicht so verrückt war“. Klar sei das Warten auf die Behördenentscheidungen schwierig. Aber wenn man einmal Angst um sein eigenes Leben gehabt habe, dann sei das Warten auf einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge verglichen damit wirklich einfacher, sagt Sainab.

Ein Jahr wartet sie, dann wird sie schließlich im April 2024 als Geflüchtete mit vollem Schutzstatus anerkannt. Bereits in den ersten Wochen bringt man Sainab in eine Wohngruppe für Jugendliche in Leipzig. Eine überfüllte Gemeinschaftsunterkunft bleibt ihr erspart. Heute spricht sie bereits fließend Deutsch, jobbt samstags als Verkäuferin beim Schnellrestaurant Nordsee und möchte nun so schnell wie möglich studieren. An der Magnetwand in ihrem Zimmer hält sie ihren jeweiligen Plan fest. Für diese Woche stehen da täglich je eine Stunde Deutsch und Mathe, Sport im Fitnessstudio, regelmäßiges Beten und gesundes Essen. Daneben hängt ein Foto ihrer Eltern.

Was genau nach ihrer Flucht mit ihrer Familie passiert ist, weiß Sainab nicht. Erst nachdem sie neun Monate in Deutschland ist, gelingt es ihr, die Mutter anzurufen, die mit einem der Brüder zunächst nach Mogadischu und dann nach Nairobi in Kenia fliehen konnte. Ihr Vater, der andere Bruder und ihre zwei Schwestern gelten als vermisst. „Was mich wirklich verletzt, sind die ewigen Fragen, warum ich alleine nach Deutschland gekommen bin.“ Sainabs große Hoffnung liegt nun in der Familienzusammenführung. Die Anträge sind längst gestellt, DNA-Proben verglichen, Dokumente übersetzt. Täglich warten nun Sainab, ihre Mutter und ihr Bruder auf das finale „Go“.

Als Sainab ihre Papiere erhält, ist ihr erstes Reiseziel im Oktober 2024 ausgerechnet Polen. Es sei eine bewusste Entscheidung gewesen und gleichzeitig auch die Möglichkeit, auf Einladung der OECD in Warschau über die Situation an der belarussischen Grenze zu sprechen. Hier trifft sie zum ersten Mal auch Kasia A. wieder, die nicht glauben kann, um was Sainab sie bittet. „Sie wollte zurück zur Grenze und die Mauer einmal von der anderen Seite sehen.“

Sie reisen gemeinsam hin, machen Spaziergänge im Wald und fahren schließlich direkt an den Grenzzaun. „Als ich die Soldaten da wieder habe stehen sehen, flossen einfach nur noch die Tränen.“ Aber es sei auch wie eine Therapie gewesen, sagt die heute 18-Jährige. Trotz der unendlichen Trauer und Wut spürt sie in diesem Moment wieder ihre Stärke, die sie von Kind auf begleitet hat: Hier steht sie nun, auf der anderen Seite der EU-Außengrenze – als starke, selbstbewusste Frau. „Und ab jetzt nehme ich mein Leben selbst in die Hand.“

Die Recherchen wurden gefördert vom „Recherchepreis Osteuropa“, vergeben vom katholischen Hilfswerk Renovabis und der evangelischen Aktion „Hoffnung für Osteuropa“.

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6 Kommentare

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  • Niemand mit einem Herzen würde diese junge Frau nicht in Deutschland willkommen heißen. Offensichtlich in der Heimat von Islamisten verfolgt und bedroht, hier offensichtlich sehr integrationswillig und -fähig.

    Geschichten wie diese beweisen, wie wichtig eine zielgerichtete Asyl- und Migrationspolitik ist und dass weitere legale Wege geschaffen werden müssen.



    Freilich bedeutet das auch, dass nicht asylberechtigte, ausreisepflichtige Asylsuchende das Land verlassen müssen. Ressourcen, menschlicher wie materieller Art, sind auch in Deutschland endlich und sollten für Personen wie diese junge Frau verwendet werden. Daher ist z. B. die Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten eine sinnvolle Idee, die nicht verteufelt sondern fachlich korrekt ausgearbeitet werden sollten.

  • Europa hat keinen Kompass mehr. Zu differenzieren, wer Schutz über Asyl braucht und wer nicht, kann doch nicht auf diese Art und Weise gelöst werden. Und es kann auch nicht sein, daß man nur im ersten, betretenen europäischen Land Asyl beantragen kann. Alle Staaten, die nicht an der EU-Aussengrenze leben, wären bevorteilt und können sich dann die arbeitswilligen und jungen Menschen je nach Bedarf aussuchen? Das klingt ja eher nach Sklavenhandel und Ausbeutung der Ressourcen anderer Länder. Denn nur gut ausgebildete Menschen sind gewollt, haben aber bei uns nur geringe Kosten verursacht. Noch schlimmer sind Überlegungen, die Asyl-Anträge in irgendwelchen Ländern, die unsere Standards gar nicht erfüllen können und nur ein rein finanzielles Interesse haben, durchführen zu lassen. Damit wir der eigenen Bevölkerung eine Beruhigungspille geben können. Dass es Deutschland so schlecht geht, kann ich nicht sehen. Für Menschlichkeit sollte es noch reichen. Deutlich ärmere Länder nehmen Flüchtlinge aus Nachbarländern auf, obwohl sie genug eigene Probleme haben. Wir sollten uns echt mal hinterfragen...

  • Wir sollten solchen Menschen unbedingt eine Chance geben. Wir werden es nicht bereuen, denn sie sind eine unglaubliche Bereicherung.

  • Auch wenn das einzelne Schicksal sehr bedrückend ist, fragt man sich wohin das führen soll. Leipzig ist überschuldet und baut Arbeitsoplätze (und damit Service für die Bewohner) ab, gleichzeitig ist der einzige Haushaltsposten der wächst, die Kosten für Migration. Die Komunen haben 24 Mrd. mehr Schulden. Der Staat hat eine Finanzierungslücke von 100 Mrd. Das ganze steuert auf einen Big Bang zu ... europaweit.

    • @Franz Tom:

      Leipzig kann gerne die Grundsteuer um 20% erhöhen. Ich hätte nichts dagegen, wenn ich daran denke, wie lächerlich wenig ich da momentan zahle.

    • @Franz Tom:

      Das Problem mit der Finanzierungslücke wäre allerdings lösbar, wenn man wirklich wollte.