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SPD-Haustürwahlkampf in Gelsenkirchen: Andrea Henze ist die Kandidatin für das Amt der Oberbürgermeisterin Foto: Fabian Ritter

Kommunalwahlen in Nordrhein-WestfalenAlles guckt nach Gelsenkirchen

Bei der Bundestagswahl holte die AfD dort die meisten Zweitstimmen. Am Sonntag ist in NRW Kommunalwahl. Vertrauen die Ar­bei­te­r:in­nen der SPD nicht mehr?

L aut und trubelig geht es an diesem Nachmittag am Fuße einer Abraumhalde zu. Kinder rennen, spielen und lassen sich trösten von Vätern und Müttern, mit und ohne Kopftuch. Die städtische Kita inmitten einer ehemaligen Zechensiedlung in Gelsenkirchen feiert ihr 30-jähriges Jubiläum, passend zum Anlass scheint die Sonne. Die lokale Politikprominenz ist auch gekommen, schließlich ist bald Kommunalwahl.

Ein Vater steht an einem der Stehtische und nippt an seiner Limonade. Seine beiden Kinder besuchen die Kita. Darf man fragen, für welche Partei er stimmen wird. Klar, darf man. „Für die AfD.“ Aha. Und weshalb? „Frust.“

Er erzählt von seinem Job bei einem Autozulieferer in Essen, der auf der Kippe steht. „Seit Monaten schon Kurzarbeit, ich weiß nicht wie das weitergehen soll, ich bin ja der Haupternährer der Familie.“ Er atmet schwer aus. Das geplante Verbrenner-Aus müsse weg, das solle der Markt regeln, da habe sich die Politik nicht einzumischen. Und die Energie müsse wieder billiger werden. „Wir hatten sauberes russisches Gas und kaufen nun teures Frackinggas aus Amerika. Versteht kein Mensch.“

Er redet offen, blickt einem beim Sprechen in die Augen. Kein strammer Rechter mit tätowierter schwarzer Sonne, sondern ein biederer Familienvater im Poloshirt. Ein Facharbeiter, der sich Sorgen um seine Zukunft macht. Wäre nicht eigentlich die SPD die Partei, die seine Interessen vertritt? „Is so“, sagt er. „Ich habe jahrelang SPD gewählt. Aber seit Olaf Scholz ist nur noch Frust.“ Und zu CDU-Kanzler Friedrich Merz habe er auch kein Vertrauen. Der habe versprochen die Schuldenbremse einzuhalten und mache nun Milliardenschulden. „In meinem Bekanntenkreis und im Betrieb denken 90 Prozent so.“

wochentaz

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Stimmungstest für die Bundesregierung

Die in Nordrhein-Westfalen zur Wahl stehenden Oberbürgermeister:innen, Stadträte und Ge­mein­de­ver­tre­te­r:in­nen werden nicht über Staatsschulden oder die deutsche Energieversorgung entscheiden, sondern über Kitaplätze, ob der Bolzplatz saniert, die Straße neu asphaltiert oder der Müll abgeholt wird. Aber die Bundespolitik lässt sich nicht ausblenden. Und so werden die Kommunalwahlen am 14. September im bevölkerungsreichsten Bundesland auch ein Stimmungstest für die Bundesregierung.

Bei der Bundestagswahl wurden die Parteien der Ampel – SPD, Grüne und FDP – abgestraft. Von der Unzufriedenheit profitierte vor allem die AfD. Besonders in den einstigen SPD-Hochburgen im Ruhrgebiet konnten die extrem Rechten punkten. In Gelsenkirchen holten sie mit fast 25 Prozent die meisten Zweitstimmen von allen Parteien.

Vor den landesweiten Kommunalwahlen steht die Stadt wieder im Fokus. Kann die AfD ihren Erfolg wiederholen, löst sie gar die SPD in ihrer einstigen Hochburg ab?

Das Empfinden, kollektiv abgewertet zu sein als Arbeiter, sucht sich ein Ventil

Klaus Dörre, Soziologe

Der Soziologe Klaus Dörre hat selbst einige Zeit in NRW gelebt und gearbeitet. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem zunehmenden Anklang der radikalen Rechten in der Arbeiterschaft. Er sagt: „Es gibt ein kollektives Abwertungsempfinden von konventionellen Lebensentwürfen.“ Leute hätten das Gefühl, sie seien in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit unterrepräsentiert, was am Stolz rühre.

Im gewerkschaftlichen Bereich sei der Eindruck verbreitet, viele hätten es sich im Bürgergeld bequem gemacht, der kollektive Status werde als bedroht wahrgenommen.

Wirtschaftlicher Abstieg und AfD-Aufstieg

In Städten wie Gelsenkirchen kommt noch der Strukturwandel hinzu. „Lange Zeit haben viele Arbeiter gar nicht gewählt, jetzt kommen Arbeiterprobleme über hohe Zustimmungswerte zur AfD in die Öffentlichkeit – das ergibt einen sich selbst verstärkenden Mechanismus.“ Es führe dazu, dass Arbeiter in gewisser Weise gegen ihre eigenen Interessen wählten. „Das Empfinden, kollektiv abgewertet zu sein als Arbeiter, ‚Ruhri‘ oder selbst auch Migrant sucht sich ein Ventil – und findet es bei einer Partei, die marktradikal ist.“

Dörre verweist auf den französischen Soziologen Didier Eribon. In seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ beschreibt Eribon am Beispiel seiner eigenen Familie die Entfremdung des Proletariats von der politischen Linken und ihre Hinwendung zur extremen Rechten. Eine Entwicklung, die in allen Industrieländern zu beobachten ist. Droht der einstigen Malocherpartei SPD in Gelsenkirchen also ein ähnliches Schicksal wie Frankreichs Sozialistischer Partei, die inzwischen in der Bedeutungslosigkeit versunken ist?

Gelsenkirchen steht nicht nur für den Aufstieg der AfD, sondern auch für wirtschaftlichen Abstieg. Die Stadt war im 20. Jahrhundert ein indus­triel­les Zentrum, hatte zu Hochzeiten 400.000 Einwohner:innen. Mit der Schließung der Zechen und Hochöfen und dem Niedergang der Textilindustrie kam der Abschwung. Heute wohnen 260.000 Menschen hier.

In einer Stadt, die bekannt ist, für den Zweitligaverein Schalke 04 und die Statistik: Niedrigstes Durchschnittseinkommen, höchste Pro-Kopf-Verschuldung, vor sechs Jahren landete man in einem Ranking der lebenswerten Städte auf dem letzten Platz: 401. Findige Marketingstrategen machten daraus den Hashtag #401.

Seit Jahrzehnten stellen die Sozialdemokraten fast ununterbrochen das Stadtoberhaupt. Doch die SPD-Amtsinhaberin tritt nicht mehr an, die Partei hat sich für eine eher unbekannte Kandidatin entschieden, eine Newcomerin in doppelter Hinsicht. Andrea Henze ist Sozialdezernentin im Rathaus und erst vor drei Jahren nach Gelsenkirchen gezogen.

Die Devise der SPD: mit Optimismus gegen Fatalismus

Auch die New York Times will die SPD-Kandidatin treffen

Genauso lange ist sie SPD-Mitglied. Mit Mitte 40 Mitglied einer Partei zu werden, ist eher ungewöhnlich. Henze sagt, für sie sei das eben lange kein Thema gewesen. Sie ist in der DDR geboren, wo man in die einzig maßgebliche Partei, die SED, weniger aus Überzeugung denn aus Opportunismus eintrat. Henze hat über den zweiten Bildungsweg Verwaltungswissenschaften studiert und sich bis zur Chefin der Dessauer Wirtschaftsförderungsagentur hochgearbeitet.

Vor zehn Jahren bewarb sie sich weg aus Sachsen-Anhalt ins Ruhrgebiet, leitete das Jobcenter in Hagen und seit 2021 den Vorstandsbereich V im Gelsenkirchener Rathaus: Wohngeld, Jobcenter, Krankenhäuser oder Tierschutz – alles ihre Themen. Keine Arbeiterführerin, sondern eine Vorarbeiterin im Maschinenraum der Bürokratie. Henze sieht es als Vorteil: „Ich habe 32 Jahre Verwaltungserfahrung, ein breites Netzwerk und weiß, wo man anpacken kann, und wo es sinnvoll ist, von Land und Bund was einzufordern.“

Mit Hochsteckfrisur und Perlenohrringen steht sie auch optisch eher für Büro als für Bergbau. Das passt dann irgendwie auch zur Transformation der einstigen Industriehochburg Gelsenkirchen und zum Wandel der SPD von der Arbeiter- zur Akademikerpartei.

SPD-Kandidatin Andrea Henze vor dem SPD-Wahlkampfbus in Gelsenkirchen-Buer Foto: Fabian Ritter

Vor Medienanfragen kann sich An­drea Henze gerade kaum retten. Für den Wahlsonntag haben sich die New York Times und das ZDF angemeldet. Die regierende SPD und Henze versuchen, dem Fatalismus mit Optimismus zu begegnen. Im Wahlkampf tourt Henze im „Aufstiegsmobil“ durch die Stadt. „Anpacken. Aufsteigen“ steht auf dem schwarzen Bus.

Sie will die „Kohle“ ins Ruhrgebiet zurückholen und Schulen zu „Fördertürmen der Zukunft machen. Und so den Beweis antreten, dass Gelsenkirchen besser ist als sein Ruf, nämlich „unfassbar grün und wirklich lebenswert“. Die Frau aus Sachsen-Anhalt, wo die Wirtschaft vor 35 Jahren komplett zusammenbrach, ist nun in Sachen Aufbau West unterwegs. Wer will, kann das ironisch finden.

Im Haustürwahlkampf

Im Stadtteil Buer trifft Henze an einem Freitag im September auf Helga und Karl-Heinz Mohr, beide über 70. Sie sind schon so lange in der SPD wie Henze auf der Welt ist – seit 50 Jahren. Die pensionierten Leh­re­r:in­nen begleiten Henze im Haustürwahlkampf. Auch das ist symbolisch: Die Älteren sind das Rückgrat der Sozialdemokratie und ihre treueste Wähler:innengruppe.

In Buer ist man auf CDU-Terrain, zweistöckige Häuser mit holzgetäfelten Wohnungstüren. „Auch bei vielen CDU-Wählern kommt Andrea gut an“, flüstert Helga Mohr als Henze klingelt.

„Guten Tag, ich bin Andrea Henze und kandidiere als Oberbürgermeisterin. Ich wollte mich vorstellen, damit sie wissen wie das Original aussieht“, sagt Henze zu einem Mann im „Glück auf“- T-Shirt. Seine Frau schiebt sich an ihm vorbei: „Endlich lerne ich Sie mal kennen“, sie strahlt Henze an. Sie sei Musikerin, ihre Band heißt „Get back Buer“. „Sie sind in der richtigen Partei, gibt aber auch viel zu meckern“, sagt sie zu Henze. Und deutet zur Straße. „Ist ’ne Katastrophe, wie die Autos hier durchrasen.“ Henze freut sich trotzdem. „Habe ich auf dem Schirm. In unserem Aufstiegsplan sind schon ganz viele Maßnahmen drin, der wird jetzt durch die Bürger ergänzt.“ Man wolle die Stadt ja nach vorn bringen.

Beim nächsten Haus hat die Kandidatin weniger Glück. „Raus, alle raus“, brüllt ein Mann, noch bevor Henze ein Wort sagen kann. Sie seufzt. „Auch solche Leute gibt’s.“

Henze ist keine Lautsprecherin. Sie sagt oft, das müsse man differenziert betrachten und plädiert für „Augenmaß“. Auch bei den gerade heiß diskutierten Bürgergeldsanktionen. „Wir müssen Menschen in Arbeit bringen, und wenn notwendig, müssen wir die Menschen entsprechend qualifizieren“, sagt sie. Das koste aber erst mal. „Einen Haushalt saniert man damit nicht.“ In Gelsenkirchen lebt jeder Vierte von Grundsicherung.

Leere Läden in der Innenstadt

Helga Mohr ist hier geboren, ihr Vater hat bei Thyssen gearbeitet. „Das war mal eine prosperierende Stadt“, erzählt sie. Doch seit die Industrie weg ist, stehen viele Läden in der Innenstadt leer. Und seit 2014 die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus Rumänien und Bulgarien eingeführt wurde, kamen auch viele, die vor der Armut flohen. Etwa 13.000 leben zurzeit in der Stadt, darunter viele Sinti und Roma.

Während die Beschäftigungsquote von Rumänen und Bulgaren bundesweit auf vergleichbar hohem Niveau wie in der Gesamtbevölkerung liegt, beträgt sie in Gelsenkirchen nur 13 Prozent. Viele werden angelockt von billigen Mieten, aber auch von skrupellosen Hinterleuten, die ganze Familien systematisch ausbeuten: Sie melden sie beim Jobcenter an, bringen sie in abbruchreifen Häusern unter, beschäftigen sie schwarz und kassieren ihre Sozialleistungen.

Das sorgt selbst in einer Stadt wie Gelsenkirchen, in die Menschen seit 150 Jahren zuwandern, für Verdruss. „Viele Leute sagen uns, es reicht. Wir wollen endlich wieder Sicherheit, Sauberkeit und Ordnung“, erzählt Helga Mohr. „Die stimmen nicht für die AfD, sondern gegen die anderen Parteien.“

Die Mohrs, selbst in der Flüchtlingshilfe aktiv, finden, die SPD habe sich beim Thema Migration zu sehr weggeduckt. „Wir haben gedacht, das sind CDU-Themen. Aber bestimmte Sachen kann man eben nicht dulden, selbst wenn man auf der Seite der Geflüchteten steht.“ Ganz wichtig sei es, in Bildung zu investieren, sagen sie, und dafür zu sorgen, „dass die Kinder hier zur Schule gehen“.

Die Stadt Gelsenkirchen hat 100 Millionen Euro von Land und Bund zugesagt bekommen, um Schrottimmobilien aufzukaufen und abzureißen. Henze zeigt beim Weiterfahren auf ein Plakat vor einer Brache: „Aufbruch durch Abbruch“ steht drauf. „Wir nehmen in den nächsten zehn Jahren 500 solcher Schrottimmobilien vom Markt. Das hilft gegen Sozialmissbrauch, und so können wir auch was für die Stadtentwicklung tun.“

Strukturwandel und Industriepolitik

Klar ist aber auch: Aus eigener Kraft und ohne vernünftige finanzielle Ausstattung wird hochverschuldeten und wirtschaftlich abgehängten Städten der Aufstieg nicht gelingen.

Der Soziologe Dörre sagt, vom Strukturwandel betroffene Regionen bräuchten eine Industriepolitik, für die es im Ruhrgebiet eigentlich eine lange Tradition gibt. Er verweist auf Dortmund. Nach dem Niedergang der Steinkohleindustrie entstand dort mit staatlichen Zuschüssen und unter Mitwirkung der Gewerkschaften ein Technologiepark, der heute einer der führenden in Europa sei. Gerade Gewerkschaften seien auch wichtig, um die Belegschaft in den Betrieben gegen den Rechtsruck zu immunisieren.

Im benachbarten Dortmund legte die AfD bei der Bundestagswahl ebenfalls zu, kam aber nur auf knapp 17 Prozent. Aber in Industriepolitik müsse der Staat kräftig investieren, sagt Dörre: „Solche Projekte müssen immer durch ein Tal des Todes, bis sie rentabel werden. Dafür brauchen sie ausreichend staatliche Finanzierung.“

Auch Henze weiß um die Grenzen der Kommunalpolitik. Etwa beim Thema Migration. „Das ist ein europäi­sches Thema – über Schulplätze und Sprache kann man einiges tun, aber wenn die Integrationsfähigkeit einer Stadt aufgrund der finanziellen Ressourcen begrenzt ist, dann sind einem irgendwann die Hände gebunden.“ Ihr gehe es darum, dass die Gesamtintegrationsleistung der Stadt wahrgenommen und berücksichtigt werde. Wo Henze auf Zukunftspartnerschaften und Maßnahmenpläne verweist, appelliert die AfD plump an niedere Gefühle.

Johlende AfD-Klientel in der Fußgängerzone

Gelsenkirchens AfD-Kreisvorsitzende und Landtagsabgeordnete Enxhi Seli-Zacharias hat sich am Wochenende vor der Wahl in der Fußgängerzone postiert und fordert Deutschlandfahnen statt Halal-Essen an Schulen, beschwört Abstiegsängste und imaginiert eine angeblich bevorstehende Unterwerfung unter den Islam.

Klassische Arbeiterthemen bespielt sie nicht, dafür umso mehr Rassismus: „Es geht auch um den sozialen Zusammenhalt – dazu gehört auch, dass du nicht reihenweise Geschäfte sehen musst, die in arabischer Sprache beschriftet sind. Wir werden dieses Gefühl von Fremdsein beenden!“, schreit sie ins Mikro und: „Wir werden dieses korrupte politische System zu Fall bringen!“ Dafür gibt es Applaus und Johlen vom AfD-Kernklientel, das sich versammelt hat.

Der OB-Kandidat der AfD, Norbert Emmerich, wirkt neben ihr eher blass. Der 72-jährige Bankkaufmann im Ruhestand ist gebürtiger Gelsenkirchener und wird als „einer von euch“ vorgestellt. Er regt sich über abgestellte Schrottautos auf, über Zweite-Reihe-Parker und vermüllte Straßen. Sein Slogan „SOS – Sauberkeit, Ordnung, Sicherheit“ sei ihm beim Spaziergehen durch die Fußgängerzone eingefallen, sagt er. Weitere Ideen formuliert er nicht.

„Ich will euch nicht länger langweilen“, leitet er das Ende seiner Rede ein. Aus AfD-Sicht scheint das für Gelsenkirchen zu reichen. Aber so wirklich glaubt auch in der AfD niemand daran, dass er in einer Stichwahl gewählt würde. Ein Selbstläufer ist die Kommunalwahl für die AfD nicht: Kaum ein Landesverband ist so zerstritten wie der in NRW. Der Landesvorsitzende leistet sich seit Jahren einen erbitterten Kampf gegen den völkisch-nationalistischen Bundestagsabgeordneten Matthias Helferich. Selbst im Wahlkampf überziehen sich die Lager mit Parteiausschlussverfahren, wüsten Beschimpfungen und Intrigen.

AfD-Strategie: Sand ins Getriebe streuen

Auch kommunalpolitisch hat die AfD außer Blockaden bislang wenig zu bieten. Ein Beispiel liefert der Leverkusener AfD-Stadtratsfraktionsvorsitzende Yannick Noe. Im Identitären-nahen Podcast „Ein Prozent“, wo Noe zu Gast war, rät er, Wahlen über jede Kleinigkeit zur Geheimabstimmung zu machen, so zieht man Sitzungen ewig in die Länge.

Um Sand ins Getriebe der ehrenamtlichen Kommunalpolitik zu streuen und Einfluss zu erpressen. „Wir haben geheime Wahl beantragt, und sie waren so unvorbereitet“, berichtet Noe von einer Kommunalparlamentssitzung. „Diese Veranstaltung, die sonst 90 Minuten dauert, haben wir auf sechseinhalb Stunden gebracht – es war eine Genugtuung.“

Frage an den Familienvater beim Kita-Fest: Traut er der AfD wirklich zu, die Probleme zu lösen? „Nein“, sagt er. Für ihn sei die AfD einfach das nächste Übel. „Aber die sollen jetzt mal machen. Wenn sie es nicht packen, dann kann ich sie ja wieder abwählen.“ Wenn er sich da mal nicht täuscht.

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18 Kommentare

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  • Lassen wir die Kirche im Dorf, die Panik ist unbegründet....



    Die AfD wird keinen Oberbürgermeister und keinen Bürgermeister stellen.



    Die AfD wird mit ca. 15% ein brauchbares " gutes" Ergebnis einfahren ( nach 5,1%) mehr aber nicht.



    Und am Montag wird auch in NRW ( wie im übrigen Deutschland) wieder die Sonne aufgehen.

    Die Panikmacher werden noch 1 bis 2 Wochen nach maulen....dann wird der Bürger merken es bleibt alles beim alten......Schlagzeilen, wie immer, zum Trotze.... der Weltuntergang ist wiedermal ausgeblieben.

  • Hm, und das schlimmsten ist, dass man ein (hoffentlich nicht eintretenden) Wahlerfolg der AfD nicht den politisch ungebildeten Ossi in die Schuhe schieben kann. Das war immer so schön einfach.

  • Gelsenkirchen ist ein gutes Beispiel.



    Der Frust der Bürger über den Dreck in der Stadt und orientierungslosigkeit der Regierung (SPD) geht durch jede Nationalität und Migrationshintergrund. Das ist keine deutsche Tugend, das ist ein internationales Bedürfnis. Die AfD muss keine Lösungen liefern Sie brauchen nur fortwährend auf Missstand hinweisen und Fragen stellen auf die es keine einfachen Antworten gibt. Damit kann sich der "ungehörte Wähler" identifizieren. Er fühlt sich von der Partei verstanden, nur weil sie einfache Fragen stellen. Zur Bundestagswahl war hier auch ein Aufmarsch der ganz Rechten. ca. 80 Teilnehmer machten sich mehr lächerlich als das sie sorgen verursachten. Hier gibt es keine HöckeJugend, weil der Landesverband es versteht die braunen Tendenzen zu vernebeln und die Seele der Bevölkerung anzusprechen.



    Die SPD hat verlernt auf das Volk zu hören und verkauft nur ihre Ideologie. Die AfD bietet keine Lösung, nur das sie sich dem Problem annehmen würden. Das ist gefühlt mehr als die CDU und SPD in den letzten Dekaden machten. Dieses Gefühl wird geschürt. Hat nichts mit Realität zu tun.



    Mir graut es vor den Zahlen um 18 Uhr

  • "Besonders in den einstigen SPD-Hochburgen im Ruhrgebiet konnten die extrem Rechten punkten."



    Das legt eigentlich nahe, dass man die Ideen und den Werdegang der SPD hart ins Gericht nehmen müsste, stattdessen wird lieber in Endlosschleife die Union kritisiert - das verstehe wer will.



    Wenn die AfD heute Ämter holt, dann hat sie sie zuallererst der SPD abgerungen.



    Dennoch scheint der Artikel explizit nochmal darauf hinweisen zu müssen, dass der befragte Familienvater "Kein strammer Rechter mit tätowierter schwarzer Sonne, sondern ein biederer Familienvater im Poloshirt (ist). Ein Facharbeiter, der sich Sorgen um seine Zukunft macht."



    Das erzählen wir Ostdeutschen euch seit Jahren. Aber das wollte und will keiner hören. Alles Nazis im Osten. So wurden wir stets beschimpft. Besonders von links.



    Nun triumphiert die AfD immer öfter auch im Westen und plötzlich fällt euch auf, dass auch Otto Normal die AfD wählt...



    Diese Borniertheit ist nur schwer zu ertragen.

    • @Saskia Brehn:

      Linke Politik ist nie schuld. Weil sie nie falsch liegt. Nicht falsch liegen kann. Per Definition. Das muss man doch mal verstehen.

      • @Querbeet:

        Welche Linke Politik? Selbst die SPD ist nicht mehr Links.



        Nur weil man ein paar Almosen nach unten verteilt ist das noch keine Linke Politik.

    • @Saskia Brehn:

      Da haben Sie recht, der Aufstieg der AfD in der „Herzkammer“ der Sozialdemokratie ist v.a. ein Problem der SPD selbst.



      Aber der infrastrukturelle Niedergang der Ruhrpott-Städte, die an vielen Stellen dort tatsächlich zu beobachtende Verwahrlosung, die viele Bürger, auch ehemals überzeugte SPD-Wähler, in die Arme der AfD treibt, ist nicht das Resultat einer (wie auch immer definierten) linken oder rot-grünen Kommunalpolitik. Vor Ort konnten in NRW‘s Städten CDU oder Grüne die Hegemonie der SPD schon brechen, bevor überhaupt an den Aufstieg der AfD zu denken war.



      Es steht eher im Kontext einer nunmehr 40 Jahre andauernden Durchsetzung der neoliberalen Ideologie, nach der Wirtschaft und Gesellschaftlich dem freien Spiel des Marktes überlassen werden sollten. Der Fehler der SPD und zugleich ihr Verhängnis ist, sich dieser Ideologie weitgehend ausgeliefert, sie als Prämisse politischen Handelns anerkannt zu haben, von deren Folgen (wirtschaftlicher Niedergang, Armut und Verwahrlosung) nun die AfD auch im Westen profitieren kann.



      Insofern möglicherweise unterschiedliche Motive in Ost und West, AfD zu wählen.

    • @Saskia Brehn:

      Es sind doch aber CDU und FDP, die das Geld immer mehr nach oben verteilen. Und dieses Geld, enorme Summen übrigens, fehlen jetzt unten und in der Mitte.

    • @Saskia Brehn:

      Ihr Ostdeutschen? Macht sich da jemand zum Sachwalter einer abstrakten, angeblich im Meinungsbild einheitlichen Gruppe?



      Das Versagen liegt vor allem bei der CDU, dort wo es um die Konservativen/Rechten im demokratischen Spektrum geht. Grund ist das Kopieren der AfD-Konzepte, die völlig abstrus und sogar gegen den besorgten Familienvater gerichtet aber deswegen attraktiv sind, weil sie Disruption und Randale versprechen.



      Das Versagen der SPD liegt darin, dass sie ihr Klientel verrät. Der Arbeitnehmer, der Mieter, allgemein die Kleinen, Schwachen in der Gesellschaft, was haben die von den vielen Jahren der SPD in der Regierung gehabt? Das Sabbatjahr für Akademiker, das Lars Klingbeil als Generalsekretär vorgeschlagen hat.



      Das sage ich als bornierter Berufswessi.

  • "Es gibt ein kollektives Abwertungsempfinden von konventionellen Lebensentwürfen.“ Leute hätten das Gefühl, sie seien in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit unterrepräsentiert, was am Stolz rühre."

    Herzlich Willkommen in den Auswirkungen linker Identitätspoitik.

    Statt umzusteuern, pflegt man lieber das Narrativ, der Zulauf zu rechten Identitätsangeboten sei irgendwie vom Himmel gefallen oder eine genetische Frage, weil ja schon 1933 ...

    • @rero:

      Noch schlimmer. Man kanzelt selbst seriöse Kritik von Außen unreflektiert als Linken-Bashing ab. Das größte Problem, dass die Linken heute haben, ist die weitgehende Entkopplung von der Mehrheitsgesellschaft, die man aufgrund eben der Übergewichtung identitätspolitischer Themen in Teilen ziemlich offen verachtet.

  • Ich gebe mittlerweile auch einer wenig beachteten Gruppe eine große Schuld an den Geschehnissen, den pseudo Linken. Ne Freundin meiner Mutter ist so eine.



    Frühpensionierte Grundschullehrerin (u.a. für Deutsch). Begeisterte Anhängerin der Grünen. Während der Ampel Jahre auf jeder pro Asyl Demo in der Nähe vertreten. Sie wohnt ca 300m Luftlinie von einer Arche entfernt, das ist eine deutschlandweit vertretene Hilfsorganisation. Als der Arche Gründer in der Bild "um Hilfe" schrie (bzw schrieb), das sie die Integration nicht gestemmt kriegen, dringend Hilfe brauchen, u.a. für Deutsch Kurse, hatte ich ihr den Artikel verlinkt mit dem Satz "hey wohnst ja ganz in der Nähe einer Arche". Hat sich nichts raus ergeben, hat sie angeblich meine Zeit für...

    Sorry, aber ich finde so geht es nicht. Man kann nicht einerseits überall und lauthals mehr Asyl und Migration fordern, und auf der anderen Seite sich dann schön raus halten. Und die Probleme die sich ergeben, den anderen überlassen.



    Die Afd wartet dann nämlich schon an der nächsten Ecke und empfängt die wütenden.



    Oh und gleichzeitig alles noch schlimmer machen, weil man natürlich auch nichts für Wohnungsbau und Co tut, -auch schlecht...

    • @Rikard Dobos:

      Ja aber echt genau so ist es !!!

    • @Rikard Dobos:

      Wenn ich Ihre Gedanken zu Ende führen darf, dann gibt es in dieser Republik überwiegend Pseudo-Vertreter: Pseudo-Linke, Pseudo-Liberale, Pseudo-Rechte etc. Die wenigstens der Wählerschaft, egal welcher Richtung lassen ihrer Haltung nämlich Taten folgen.



      Man könnte aber mal eine Untersuchung machen, aus welcher Anhängerschaft sich die meisten Menschen auch tatkräftig engagieren, sei es in den Parteien selbst, in Gewerkschaften, als Ehrenamtliche etc.

      • @Il_Leopardo:

        Natürlich aus linker Anhängerschaft.

        • @Querbeet:

          Der Witz ist gut!🤣

      • @Il_Leopardo:

        Da wir in Deutschland mittlerweile alles untersuchen und nichts tun. Eine Demonstration ist aber nie eine ehrenamtliche Hilfe. Die wichtigen Ehrenamtlichen sieht man nicht in der Öffentlichkeit, die haben keine Zeit dafür. In der staatlichen Ordnung steht das Konnexitätsprinzip auf der Kippe. Bei Forderungen an den Staat sollte auch ein sinnvolles Gespräch über die eingesetzten Resourcen geführt werden. Von Linken kommt hauptsächlich die Kritik an unserem Wehretat und die Vermögen. Das können sie gut fordern, weil sie die Bundeswehr verweigern. Bei den Vermögen wird eine Scheinlösung durch Andere eingefordert. Beides muß sachlich besprochen und umgesetzt werden. Es ist wichtig die Demokratie täglich weiter zu entwickeln, bei Rechten aber auch Linken sehe ich dazu wenig Ansätze. Der CDU die Schuld am erstarken der AFD anzulasten ist einfach abstrus. In der Natur ist angelegt, dass sich Gegensätze antreiben. Es sollte eine klare Grenzziehung geben, demokratische und undemokratische Parteien. Es muß stärker aufgeklärt werden, das Rechte und Linke kein tragfähiges Politikkonzept haben. Der Druck sollte die demokratischen Parteien zu sinnvollen Kompromissen leiten.

        • @jogi19:

          Zum "nichts tun" gehört für mich auch die im Artikel erwähnte Ausnutzung der Situation bulgarischer und rumänischer Migranten durch skrupellose Ausbeuter. Das Phänomen ist ja nicht neu und nicht auf Gelsenkirchen beschränkt.

          Aber das die zuständigen Behörden offenbar gar nichts tun, das merken die Menschen, die in der Nachbarschaft solcher Brennpunkte leben und für die Verhältnisse nicht verantwortlich sind. Aber die Folgen mit ausbaden müssen.

          Und über Berichte in den Medien oder Gespräche am Stammtisch oder im Verein erfährt auch der im Artikel erwähnte Facharbeiter davon. Und wählt am Ende die AfD, weil die behauptet, sie könne diese Probleme lösen. Möglicherweise glaubt er das zwar nicht, aber nachdem die etablierten Parteien das Problem seit Jahren nicht angegangen sind, haben die ihre Glaubwürdigkeit verspielt.