NDR-Entscheidung zu „Klar“: Von wegen „Cancel-Culture“
Der NDR trennt sich von der umstrittenen Moderatorin Julia Ruhs. Das ist keine linke Agenda, wie Rechte fabulieren. Das ist Qualitätssicherung.
H ier sind wir wieder, in der nächsten Runde des „Cancel-Culture“-Karussells. Die Absetzung von Julia Ruhs durch den NDR hat eine neue Debatte über die Ausrichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Gang gesetzt. Zuvor moderierte sie drei Folgen des Reportageformats „Klar“, das nicht zuletzt von anderen Journalist*innen hinsichtlich der Qualität stark kritisiert wurde. So eine Gelegenheit, gegen eine vermeintliche links-grüne Meinungshegemonie zu schießen, lassen führende Politiker*innen selten sausen.
Ein „Tiefpunkt deutscher Debattenkultur“, klagt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann und fordert, die ÖRR-Gebühren einzufrieren, damit Druck entstehe und Reformen passierten. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) spricht von einem „extrem schlechten Signal“ und übergeht eine NDR-Veranstaltung zum Intendantenwechsel. Stattdessen besuchte er eine Veranstaltung in Kiel, auf der Ruhs’ neues Buch „Links-grüne Meinungsmacht – Die Spaltung unseres Landes“ vorgestellt wurde. Beides fand am Donnerstagabend statt. Offiziell sage Günther die NDR-Veranstaltung in Hamburg aus terminlichen Gründen ab. Er habe in Kiel bleiben müssen und deswegen spontan zugesagt.
NDR-interne Kritik an bisherigen Folgen
Doch von vorne: Was war passiert? Nach Recherchen der Welt soll der NDR seit Ausstrahlung der Pilotfolge im April in einen internen Konflikt rund um das Format „Klar“ mit Moderatorin Ruhs geraten sein. Die Sendung entstand aus einer Kooperation von BR und NDR. Laut NDR, um die öffentlich-rechtliche Perspektivenvielfalt zu erhöhen.
Wie der Sender mittlerweile in einer Pressemitteilung bestätigt, lebt die Idee weiter – nur Julia Ruhs steht in den vom NDR produzierten Folgen nicht weiter vor der Kamera. Während sie die BR-Folgen weiterhin anleitet, wird Tanit Koch den Job ab 2026 für den NDR übernehmen, wie aus einer Pressemitteilung vom Freitagnachmittag hervorgeht.
Die bisherige Karriere von Koch ist markant. Unter anderem war sie zwei Jahre lang Chefredakteurin der Bild und leitete später die Wahlkampfkommunikation von Armin Laschet. Genau wie Julia Ruhs schreibt Tanit Koch auch für Focus.
250 Mitarbeiter*innen des Norddeutschen Rundfunks sollen sich laut Welt in einem offenen Brief an ihre Vorgesetzten von „Klar“ distanziert haben. Darin äußern sie unter anderem Zweifel an der Einhaltung von im Medienstaatsvertrag festgeschriebenen journalistischen Standards.
Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Rechte Medien wittern in dieser Kritik durch Mitarbeitende des ÖRR eine Einseitigkeit des ÖRR; der Cicero etwa trauert der „einzigen konservativen Journalistin im öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ nach. Ruhs selbst lässt die Debatte auch nicht ruhen, im Gegenteil. Gegenüber Table Media erhebt sie schwere Vorwürfe gegen den NDR. „Mundtot“ habe man sie gemacht, der NDR halte offenbar weniger von Meinungsvielfalt als der BR.
Überraschend äußert sich auch Heidi Reichinnek. Gegenüber dem Spiegel gibt die Linke-Politikerin zu bedenken: „Es ist wirklich hochproblematisch, wenn auf Druck von irgendeiner Seite etwas abgesetzt wird.“ Damit lässt auch Reichinnek sich auf eine verkürzte Rhetorik ein, die eine breitere Kontextualisierung vermissen lässt.
Niemand wurde gecancelt
Aber von einer Cancel-Culture kann keine Rede sein. Wie der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) in einer Pressemitteilung schreibt, sei es Fakt, dass Ruhs nicht aus dem ÖRR rausgeschmissen werde, sondern weiterhin „Klar“ moderieren dürfe – fortan eben beim BR und im Wechsel mit anderen Kolleg*innen.
Nichts daran rechtfertige Aufgeregtheit bis in höchste politische Kreise. Besonders die Aussagen der CDU-Politiker kritisierte der Verband. Die Beiträge einzufrieren – wie von Linnemann gefordert –, sei „verfassungswidrig“.
Auch der Redaktionsausschuss des NDR schaltete sich ein, dessen Stellungnahme liegt dem Evangelischen Pressedienst vor. Der Ausschuss fordere eine zeitige Aufarbeitung aller Entscheidungen rund um „Klar“ und sämtlicher Entscheidungen. Sie seien zum Teil sachlich falsch oder verzerrt kommuniziert worden.
Dass der NDR sie zum Schweigen bringe, behandelt Julia Ruhs wie eine knallharte Tatsache, ebenso einige Politiker*innen. Öffentlich ist das interne Schreiben der Mitarbeiter*innen aber nicht, so ist es laut Pressemitteilung des NDR auch gewollt. Mindestens merkwürdig also, wie selbstbewusst Rechte sich in ihrer Opferrolle niederlassen.
Einzelne Teile des offenen Briefs machte die Welt publik. In ihm heiße es, die Sendung über Migration verletze „eine Reihe von Grundsätzen unserer journalistischen Arbeit und kommt unserem öffentlich-rechtlichen Auftrag gemäß NDR-Staatsvertrag nicht nach“.
Absetzung wegen mangelnder journalistischer Qualität
Dass 250 Mitarbeiter*innen sich gegen ihre Vorgesetzten auflehnen, ist kein Ausdruck von Cancel-Culture, sondern gelebter Widerstand. Ihrer Kritik an der journalistischen Qualität steht eine repräsentative Befragung des Senders entgegen. Die ergab, dass 63 Prozent der Befragten „Klar“ die Noten Eins oder Zwei geben, BR-Programmdirektor Thomas Hinrichs spricht angesichts dessen von einer hohen Akzeptanz beim Publikum. Doch trotz mächtiger Quote halten die Redakteur*innen journalistische Werte hoch.
Die spaltende Rhetorik, die sie in der „Klar“-Folge über Migration beobachten, lehnen sie deshalb ab – ganz gleich, ob sie den Zuschauer*innen Freude bereitet oder nicht. Ruhs mache es „fassungslos“, dass hier nicht die Zuschauer*innen eine Rolle spielten, sondern „politische Befindlichkeiten“, wie sie in einem Interview mit dem Cicero sagt.
Natürlich ist es wichtig, dass das geplante Programm auch gut beim Publikum ankommt und nicht ins Leere gesendet wird. Doch genauso ist es Aufgabe aller Mitarbeitenden, einzuschreiten, wenn sie die Vorschriften eines Grundsatzes verletzt sehen. Mit „politischen Befindlichkeiten“ hat das überhaupt nichts am Hut.
Gecancelt wurde hier niemand. Es wurden nur die redaktionellen Vorschriften des NDR-Staatsvertrags beachtet, nämlich die Sorgfaltspflicht.
Fantasie eines linken Mobs im ÖRR
Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) warnte den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Fernsehsender der Welt vor einem Akzeptanzverlust. Weite Teile der Bevölkerung hätten den Eindruck, dass der ÖRR einseitig berichte. „Und das ist ein Problem, weil die Öffentlich-Rechtlichen von großer Akzeptanz leben.“ Damit hat er recht. Doch liegt der Akzeptanzverlust wirklich an der NDR-Trennung von Ruhs? Oder nicht vielmehr daran, dass manche in der Wahrung journalistischer Standards einen hegemonialen linken Mob sehen und darstellen wollen?
Letzteres lässt sich aktuell in jeglichen konservativen bis rechten Medien und in den Äußerungen von Günther, Linnemann oder Weimer beobachten.
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