Streeck will bei Älteren sparen: Die kalte Logik der Bilanzen
CDU-Politiker Hendrik Streeck überlegt öffentlich, ob alte Menschen noch teure Medikamente bekommen sollen. An Menschenwürde denkt er dabei nicht.
D er Sozialdarwinismus neoliberaler Prägung hat die eigentümliche Eigenschaft, sich oft ein Gewand der Menschlichkeit überzuwerfen. Nur das Beste wollend, fordert er die Aufgabe des ersten aller humanistischen Grundsätze. Elias Canetti formulierte ihn einst so: „Jeden Tod hassen, als wäre es der eigene.“
Unter dem Druck einer sich verschlechternden Finanzlage breitet sich der Terror der Bilanzen aus. Ob diese humanistische Grundhaltung überhaupt noch vernünftig sei, ist der Einwand, der immer vorgibt, nur ein Denkanstoß sein zu wollen.
Aktuell exerziert das Hendrik Streeck durch, Virologe, CDU-Politiker und Drogenbeauftragter der Bundesregierung. In gespielter Unschuld fragte er in einer Talkshow auf Welt TV, ob es überhaupt sinnvoll sei, 100-Jährigen teure Medikamente zu geben. Der zugehörige Welt-Artikel sprang ihm mit dem passenden Framing zur Seite: Die Gesundheitsausgaben würden 2024 laut Schätzung des Statistischen Bundesamts rund 538 Milliarden Euro betragen. Das ist ein Anstieg um 7,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, auch 2025 würde mit steigenden Gesundheitsausgaben gerechnet. Die gesetzlichen Krankenkassen beklagten eine „ungebrochene Ausgabendynamik“.
Sparen oder Ersparen
Wahr ist, dass die letzten sechs Monate eines Menschenlebens statistisch die teuersten sind. Auch wahr ist, dass die Gesundheitsausgaben insgesamt steigen, durch bessere Löhne im Gesundheitsbereich, wachsende Kosten für Medikamente und Sachkosten. Das liegt teilweise am demografischen Wandel, aber auch an der massiven Zunahme chronischer Erkrankungen. Die sind im Übrigen auch Folge einer Pandemie, die durchlaufen zu lassen Hendrik Streeck auch dann für den richtigen Weg hielt, als er dutzendfach des Irrtums überführt wurde.
Der Widerspruch gegen Streecks Vorstoß kam prompt und heftig, selbst die Bundesregierung distanzierte sich.
Das muss auch Streeck aufgefallen sein, der sich zu einem Gastbeitrag im Bonner General Anzeiger genötigt sah: Es gehe nicht ums Sparen, sondern darum, Menschen etwas zu ersparen. Warum er zuvor von „teuren“ Medikamenten sprach, von „lukrativen“ Eingriffen, insgesamt ständig auf die Kosten hinwies – das weiß der Teufel. Die entscheidende Frage sei für ihn: „Verbessert es das Leben? Oder verlängert es das Leiden?“ Man könnte hier von einem instrumentellen Humanismus sprechen: Selbst bei dieser entscheidenden Frage kommt Hendrik Streeck nicht über die kalte Logik der Bilanzen hinaus.
Im Sinne von Staatskasse und Volkswohl
Es ist freilich nicht das erste Mal, dass Hendrik Streeck an der Gesundheitsversorgung sägt. Erst im September 2025 sprach er sich für eine Selbstbeteiligung von Patient*innen bei Behandlungskosten aus. Auch damals war es eine eigenartige Mischung von Dukatenzählerei und vorgeschobenem Gemeinsinn, die seine Argumentation stützte, als er sagte: „Wir müssen uns von einer unsolidarischen Vollkaskomentalität verabschieden. Gesundheit ist keine All-inclusive-Dienstleistung des Staates.“
Was Hendrik Streeck zu begreifen nicht in der Lage zu sein scheint: Es obliegt den Patient*innen, zu entscheiden, ob sie Hilfe annehmen oder ablehnen. Ihnen diese Freiheit zu geben, heißt, ihre Würde zu bewahren. Es heißt nicht, sie unter Druck zu setzen, sich im Sinne der Staatskasse und des Volkswohls zu opfern.
Wenn die Politik eine Grenze zieht, wann wem unter welchen Umständen zu helfen ist, und diese Grenze nicht der Tod ist, wird sie beliebig. Besonders fatal ist dabei, dass Streeck nicht nur als Politiker auftritt, sondern auch als Arzt: Sollten Ärzt*innen nicht die Fürsprecher*innen der Patient*innen sein? Wäre das im öffentlichen Diskurs nicht die Rolle, die sie auszufüllen hätten? Gerade für jene Patient*innen, die, weil sie zu krank oder zu eingeschränkt sind, öffentlich nicht mehr sprechen können?
Und auch ein Politiker, der im Gesundheitssystem falsche Anreize sieht, würde die Patient*innenrechte stärken. Denn falsche Anreize werden nicht von Menschen geschaffen, die leben wollen – so unvernünftig das Streeck auch scheinen mag. Sondern von der Profitorientierung im Gesundheitssystem, die die Union federführend mit zu verantworten hat.
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