Straßenumfrage: Woran glauben die Berliner?

Jesus, der Mammon, Buddha oder schlicht sich selbst? Die Berliner sind sehr vielfältig, was ihren Glauben angeht

Im ruhigeren Teil der Bergmannstraße in Kreuzberg ist an diesem frühen Vormittag wenig los, nur ein paar Passanten eilen zur Postfiliale gegenüber dem Friedhof Friedrichswerder. "An was ich glaube? Dass ich bald da drüben liegen werde. An sonst nichts mehr!" Die etwa 60-jährige Frau - ihren Namen will sie nicht nennen - sitzt dick eingemummt in einem Rollstuhl und deutet auf die Gräber an der anderen Straßenseite. Eine schwere Krankheit habe sie vor einigen Jahren "aus der Bahn geworfen". Meist bleibt sie bis abends hier und verkauft Erwerbslosenzeitungen. Heute wohl nicht: "Ich glaub auch nicht mehr, dass meine Bekannte noch vorbeikommt. Die wollte mir dicke Wollsocken bringen."

Desillusioniert ist auch Börnie Steffen, 31, aus Ahrensfelde. Die Mutter zweier Kinder, die auf dem Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche Glühwein verkauft, ist wütend. "Ich kann an nichts mehr glauben, wenn ich sehe, wie schwierig es ist, meine kranken Kinder ärztlich versorgen zu lassen. Das ist nicht mehr zu bezahlen!" Für ihre Kinder stellt sie anderes zurück, trotzdem müssen sie auf Geschenke bis Anfang Januar warten. "Bis dann steh ich ja noch auf dem Markt."

Enttäuschungen und Schicksalsschläge können den Glauben an das Leben und andere Menschen nachhaltig zerstören. Auf der anderen Seite ist der "unerschütterliche" Glaube an sich selbst und seine Fähigkeiten hilfreich, um genau solche Krisen zu bewältigen. Das findet auch Selma Özturkmen. "Ich habe immer an mich selbst geglaubt." Einige hundert Meter weiter auf der Bergmannstraße sitzt die alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes im Café. Die 35-Jährige ist im Aufbruch begriffen, sie verlässt Berlin. Nach der Trennung von ihrem Mann und längerer Arbeitslosigkeit hat sie eine Stelle als Arzthelferin in Köln gefunden. "Mein Selbstbewusstsein wird mir bei den Veränderungen helfen."

Veränderungen hat die Steglitzerin Anna Luise Wächter, 74, einige in ihrem Leben erfahren. Als Kind hat sie den Zweiten Weltkrieg noch miterlebt, später studiert und als Kartografin im gehobenen Dienst bei einer Bundesbehörde gearbeitet. Die sichere Beamtenstelle gab sie auf: "Das wurde mir alles zu eintönig. Ich habe daran geglaubt, dass es etwas anderes geben muss, was mich mehr ausfüllt." Sie studierte Sozialarbeit und war bis zu ihrem Renteneintritt in verschiedenen sozialen Einrichtungen tätig. Auch jetzt engagiert sie sich weiter und sammelt an der Gedächtniskirche für die Kindernothilfe. "Ich glaube an Gott und die Liebe und an die Kraft, die Veränderungen geben können."

Thomas Feld ist gerade erst nach Berlin gezogen. Trotz prognostizierter Wirtschaftskrise ist der smarte Anlageberater, der noch bei Freunden in Friedrichshain wohnt, davon überzeugt, dass es bald wieder aufwärtsgeht. "Ich bin sicher, dass der Abschwung nur von kurzer Dauer sein wird. Ich glaube weiterhin an die Kräfte des freien Marktes." Die will der 30-Jährige mit dem geplanten Kauf einer Eigentumswohnung in Prenzlauer Berg selbst mit ankurbeln.

Helga Kuepers hat mit 46 Jahren noch einmal ein Studium im Fach "Public Health" an der Charité aufgenommen. Ihren Beruf als Software-Beraterin übt die Kreuzbergerin nur noch in Teilzeit aus. "Das ist finanziell etwas schwierig, aber ich glaube an das Positive, das von Neuem ausgeht, sei es im privaten wie im beruflichen Bereich."

Die Glaubensfrage hat für Peter Farber zunächst einen religiösen Hintergrund, weil er mit dem Katholizismus früh in Berührung kam. Der 55-jährige Buchhändler aus Weißensee ist in einer Kleinstadt aufgewachsen. "Ich bin damals stark von der katholischen Kirche beeinflusst worden." Heute glaubt er mehr an humanistische Werte. "Ich glaube an den gesunden Menschenverstand, an Bescheidenheit und an Fairness im Umgang mit anderen."

Für die Muslimin Ayse Yarangunu, 36, ist die Antwort auf die Glaubensfrage eindeutig. "Ich glaube an Allah und die Werte, die der Islam vermittelt." Ansonsten kann sie mit der Frage wenig anfangen. Sie betreibt mit ihrem Mann von 6 Uhr morgens bis spätabends den Kiosk in der U-Bahn Altstadt Spandau. "Da komme ich nicht dazu, viel nachzudenken."

Genauso geht es der gleichaltrigen Ilona Popova im "Check Point Curry". Unablässig strömen die Arbeiter der umliegenden Baustellen zu ihrem kleinen Imbiss am Bahnhof Friedrichstraße und halten sie auf Trab. "Ne, an Liebe, Freundschaft und so etwas glaube ich nicht mehr. Ich glaube nur noch an das, was ich sehe!"

Im U-Bahnhof Turmstraße sitzt Renate Lange, 55, zusammengekauert in einer Ecke der Vorhalle, um sich vor dem zugigen Wind draußen zu schützen. Sie trägt einen dünnen Mantel und ein schmutziges Kopftuch. Den starren Blick nach vorn gerichtet, verkauft die Kreuzbergerin den Straßenfeger. Ruhig und gelassen antwortet sie auf die Frage. "Ich glaube an die Menschen, die Liebe und die Zukunft." Etwas überraschend, wenn man erfährt, dass die ehemalige Bäckereiverkäuferin seit vielen Jahren krank und arbeitslos ist. "Ich habe einen lieben Freund. Wir leben in getrennten Wohnungen." Ihr ist klar, dass sie nicht mehr in einem "normalen" Beruf arbeiten kann. Sie sagt, dass sie dennoch zufrieden ist.

An eine gute Zukunft glaubt Hans Dieter Sproten. Der 52-jährige Deutschlehrer an einer Privatschule in Schöneberg hat relativ spät in seinem Leben eine Familie gegründet und ist Vater einer sechsjährigen Tochter. "Vorher hing ich schon mal ziemlich durch. Ich glaube, dass der Zusammenhalt in einer Familie sehr wichtig ist."

Familie hat Nathalie, 24, aus Moabit, keine mehr. Sie ist als Waise in einem Heim aufgewachsen. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen, sie jobbt als Tänzerin und "Modell" in einem Club. "Ich glaube daran, dass ich in zehn Jahren oder so meinen eigenen kleinen Laden habe, irgendetwas mit Mode oder so."

Andreas Papenfuß aus Spandau glaubt an die Kraft und Wirkung von Musik. Der 41-jährige Taxifahrer gerät ins Schwärmen: "Wenn es mir schlecht geht, höre ich zum Beispiel Neil Young oder Bob Dylan. Fast immer bewegt das bei mir was. Ich kann dann alles andere, was mich belastet, vergessen." Bei seinen Fahrgästen beobachtet er gelegentlich eine ähnliche Wirkung.

Jürgen Förster ist mit einer kleinen Gruppe Touristen am Alexanderplatz unterwegs. Der 48-Jährige aus Hellersdorf glaubt daran, dass Reisen für ihn sehr wichtig war und ist. "Nur so habe ich andere Kulturen kennengelernt und mehr von fremden Ländern und den Menschen dort verstanden." Diesen inspirierenden Erfahrungsaustausch erlebt Förster auch in Berlin: Seit zwei arbeitet er als Stadtführer.

In der "Dicken Wirtin" am Savignyplatz sitzt Steffen Rüdrich an der Theke. Der 29-jährige Maler und Lackierer aus Pankow trinkt sein Feierabendbier, nachdem er in einer nahe gelegenen Wohnung mehrere Zimmer gestrichen hat. "Ich glaube, dass meine Zukunft im Ausland liegt. Hier hält mich nichts mehr." Er spricht von Routine und Eintönigkeit, die er verspürt. "Jeden Tag das Gleiche."

Inzwischen ist es spät am Nachmittag. Die Frau an der Post in der Bergmannstraße packt ihre Zeitungen in das Seitenfach des Rollstuhls und fährt nach Hause. Ihre Freundin hat die wärmenden Socken doch noch gebracht. "So ganz habe ich den Glauben an die Menschen doch noch nicht verloren", sagt sie leise. Als sie um die Ecke biegt, ist im Licht der Straßenlaterne der Anflug eines Lächelns zu erkennen.

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