12 Jahre nach NSU-Enttarnung: „Das wäre eine weitere Demütigung“

Vor zwölf Jahren enttarnte sich der NSU. Die Betroffenen ringen mit dem Leid und den Plänen der Terroristen – und die Ampel ringt mit der Aufklärung.

Ein Kranz liegt auf dem Boden

Ein Kranz für Mehmet Turgut, 12 Jahre nach seiner Ermordung durch den NSU Foto: Frank Hormann/imago

BERLIN taz | Erst am vergangenen Wochenende trafen sich einige Familien der NSU-Betroffenen in Berlin. Mit der Bundeszentrale für politische Bildung besprachen sie ein geplantes Projekt der Bundesregierung, das an den Terror erinnern soll, den ihre Angehörigen erlitten: ein Dokumentationszentrum zum „Nationalsozialistischen Untergrund“. Und der Blick richtete sich auch auf die lange Zeit, die seit der Selbstenttarnung der Rechtsterrorgruppe vergangen ist: genau 12 Jahre.

Es war am 4. November 2011, als das Motiv der jahrelange NSU-Mordserie offenbar wurde. Bereits 1998 waren die Neonazis Bea­te Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Thüringen abgetaucht, hatten über Jahre zehn Menschen ermordet, drei Anschläge und 15 Raubüberfälle verübt. Polizei und Verfassungsschutz indes sahen kein rechtsextremes Motiv, immer wieder wurde gegen die Familien ermittelt. Bis Mundlos und Böhnhardt sich am 4. November 2011 nach einem gescheiterten Banküberfall erschossen und Zschäpe den Unterschlupf in Zwickau in Brand setzte und die NSU-Bekenner­videos verschickte.

Ein zentrales Gedenken wird es an diesem Jahrestag nicht geben. Die Angehörigen werden aber teils an den Tatorten ihrer ermordeten Angehörigen gedenken. „Die Familien sind gewillt, ihre Leben nicht von dem erlittenen Trauma dominieren zu lassen“, sagt Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opferfamilien, der taz. „Aber die Wunde klafft weiter offen.“

Und die Familien treibt auch um, wie sich Zschäpe und der engste NSU-Helfer André Eminger zuletzt verhielten. Zschäpe sitzt in der JVA Chemnitz eine lebenslange Haftstrafe ab. Eminger wurde nach nur anderthalb Jahren Gefängnis haftverschont. Beide betonen nun, sie seien Szeneaussteiger. Während Eminger sich bereits seit anderthalb Jahren im Aussteigerprogramm Sachsen befindet, wurde ein Antrag Zschäpes dort abgelehnt.

Zschäpe will weiter in Aussteigerprogramm

Ihr Haftende sei noch in zu weiter Ferne, erklärte das Projekt laut Zschäpes Anwalt Mathias Grasel. Das Programm selbst erklärte auf taz-Anfrage, man äußere sich nicht zu konkreten Fällen oder Fallanfragen. Grasel sagte der taz, Zschäpe habe nun Aussteigerprogramme des Bundes und anderer Bundesländer kontaktiert. „Ich denke, dass wir da fündig werden.“ Bei einer Befragung im bayrischen NSU-Untersuchungsausschuss im Mai diesen Jahres hatte Zschäpe sich ebenso als Aussteigerin bezeichnet. „Ich sehe mich so, ja.“

Die Betroffenen halten das für eine Farce. „Für die Familien sind die Ausstiege völlig unglaubwürdig“, sagt Ombudsfrau John. „Sowohl Eminger als auch Zschäpe saßen jahrelang im NSU-Prozess, ohne mit einem Wort an der Aufklärung mitzuwirken. Die behaupteten Ausstiege sind ein taktisches Vorgehen, um eine so frühe Haftentlassung zu bekommen wie möglich.“

Im Fall Eminger hat das bereits funktioniert. Sein Anwalt hatte dem Oberlandesgericht München erklärt, Eminger habe Mitte 2019 begonnen, sich aus der rechtsextremen Szene zu lösen und einschlägige Tätowierungen zu entfernen. Noch bis Herbst 2022 hielt Eminger allerdings Briefkontakt mit einer später verurteilten Rechtsterroristin, ätzte dort über „Antifanten“ oder „linksversiffte besetzte Häuser“.

Zschäpe sitzt derweil, inklusive U-Haft, bereits seit 12 Jahren in Haft. Bei einer lebenslangen Strafe kann theoretisch nach 15 Jahren erstmals eine Haftverschonung erfolgen. Bei Zschäpe sah das Gericht aber eine besondere Schwere der Schuld, weshalb weitere Jahre folgen dürften. In gut zwei Jahren wird diese Mindestverbüßungsdauer für Zschäpe verkündet.

John warnt vor einer frühzeitigen Haftentlassung Zschäpes: „Das würde ihrer Schuld nicht im Ansatz gerecht, und das würden die Familien als weitere Demütigung ansehen.“ John plädiert für eine Erweiterung der Rechte der Opfer: Diese müssten bei solch schweren Taten ein Recht bekommen, in Fragen einer Haftverschonung angehört zu werden und Einspruch erheben zu können.

NSU-Dokumentationszentrum und Archiv in Planung

Und auch bei der NSU-Aufklärung bleiben bis heute offene Frage – allen voran nach möglichen Mittätern. Die Ampel-Regierung vereinbarte im Koalitionsvertrag, die Aufklärung „energisch voranzutreiben“ und ein NSU-Dokumentationszentrum und Rechtsterrorarchiv einzurichten. Beide Projekte kommen aber nur mäßig voran. Das Archiv plant das Bundeskulturstaatsministerium, es soll digital eingerichtet werden und im November 2024 an den Start gehen. Für das Dokumentationszentrum ließ das Bundesinnenministerium die Bundeszentrale für politische Bildung zuletzt Gutachten erarbeiten. Ort, Kosten und Eröffnungstermin sind noch offen, eine Machbarkeitsstudie soll bis Ende Februar 2024 vorliegen. Und: Für beide Projekte sind bisher noch keine Gelder im Bundeshaushalt eingestellt.

Zudem gehen die Vorstellungen von Politik und Betroffenen beim Dokumentationszentrum noch auseinander. Während Sachsen dafür wirbt, das Zentrum in Chemnitz und Zwickau anzusiedeln, lehnen die Hinterbliebenen das ab. „Beide Orte sind für die Familien Täterstädte, die sie meiden und wo sie sich nicht sicher fühlen“, erklärt Ombudsfrau John. Die Hinterbliebenen würden eher für Städte wie Berlin oder München plädieren. „Dort hätte die Aufklärung einen zentralen Platz, den viele Menschen und auch die Hinterbliebenen aufsuchen könnten.“ Das Zentrum an sich werde von den Betroffenen aber sehr begrüßt. „Es gibt ihnen die Hoffnung, dass damit doch noch das NSU-Netzwerk aufgeklärt wird.“

Kritik auch aus der Ampel

Auch in der Ampel wird nun Druck gemacht, die Projekte zu forcieren. Die Grünen-Abgeordnete Misbah Khan erinnert an die Versprechen im Koalitionsvertrag und den von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärten Kampf gegen Rechtsextremismus. „Ein weiteres Jahr ohne entsprechende politische Handlungen, wäre den Opfern des NSU-Komplexes sowie den aktuell Betroffenen rechter Gewalt, unwürdig.“ In den Ampelfraktionen verhandeln deshalb einige Abgeordnete derzeit, doch noch Gelder für das NSU-Dokumentationszentrum und Rechtsterror-Archiv in den Haushalt 2024 einzustellen.

Und auch die Linken-Innenpolitikerin Martina Renner beklagt, dass auch zwölf Jahre nach der NSU-Enttarnung dessen Verstrickungen in die Sicherheitsbehörden sowie das Behördenversagen „nicht konsequent aufgearbeitet“ seien. Zudem würden sich auch aktuell wieder rechtsterroristische Angriffe häufen, fänden Täter einen „rassistischen Nährboden, der von Po­li­ti­ke­r*in­nen aus dem gesamten Parteienspektrum bereitet wird“, so Renner zur taz. Echte Aufklärung müsse daher in die Zukunft zielen. Und rechter Terror „endlich konsequent bekämpft werden“.

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Rechtsextreme Terroranschläge haben Tradition in Deutschland.

■ Beim Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980 starben 13 Menschen in München.

■ Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe verübte bis 2011 zehn Morde und drei Anschläge.

■ Als Rechtsterroristen verurteilt wurde zuletzt die sächsische „Gruppe Freital“, ebenso die „Oldschool Society“ und die Gruppe „Revolution Chemnitz“.

■ Gegen den Bundeswehrsoldaten Franco A. wird wegen Rechtsterrorverdachts ermittelt.

■ Ein Attentäter erschoss in München im Jahr 2016 auch aus rassistischen Gründen neun Menschen.

■ Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde 2019 getötet. Der Rechtsextremist Stephan Ernst gilt als dringend tatverdächtig.

■ In die Synagoge in Halle versuchte Stephan B. am 9. Oktober 2019 zu stürmen und ermordete zwei Menschen.

■ In Hanau erschoss ein Mann am 19. Februar 2020 in Shisha-Bars neun Menschen und dann seine Mutter und sich selbst. Er hinterließ rassistische Pamphlete.

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