Alternative Stadttour durch Amsterdam: Die ganze Geschichte erzählen

Welche neuen, nachhaltigen und reflektierten Initiativen gibt es im Städtetourismus? Ein Rundgang durch Amsterdam mit Tours That Matter.

Ein kleiner weißer Hund trägt eine Fahne in Regenbogenfarben um den Hals

Amsterdam jenseits der Klischees erleben, dazu gehört auch ein LBTGQI-aktivistischer Hund Foto: Romy Arroyo Fernandez/picture alliance

Der Ort ist wie geschaffen, um einen Joint zu rauchen. Ein schattiger Innenhof zwischen Wohnhäusern, lauschig, doch weitläufig genug, um wie ein kleiner Park zu wirken. Hohe Bäume, Bänke, ein wenig abseits vom Trubel entlang der Grachten – doch was, bitte, ist das? Rot umrandete Verbotsschilder untersagen nicht nur, wie überall im Zentrum der Stadt, den Konsum alkoholischer Getränke, sondern auch von Cannabis. Und das in Amsterdam? Ausgerechnet?

Genau hier setzt Tourguide Berber Hidma zu ihren Ausführungen an, wie in den Niederlanden ab Mitte der 1970er Haschisch und Marihuana entkriminalisiert wurden. Nicht vollständig, aber genug, um Amsterdam zu einem der Ausgangspunkte des hippie trail zu machen und dann zum Mekka von THC-Liebhabern aus aller Welt. “Von überall kamen Menschen, um hier Freiheit zu erfahren“, sagt sie und ergänzt das allseits bekannte Klischee der niederländischen Hauptstadt: “Mit Freiheit geht auch Verantwortung einher. Du kannst nicht einfach tun und lassen, was du willst, nur weil du in Amsterdam bist. Hier wohnen auch Menschen!“

Zwei Stunden vorher: Berber und die Gruppe, die sie heute durch die Stadt führt, treffen sich im Foyer des Student Hotel am Rand des Zentrums: sechs Austauschstudent*innen, die meisten sind erst seit einigen Tage in den Niederlanden, alle um die 20. Drei von ihnen kommen aus Dänemark, die anderen aus der Ukraine, Belarus und der Slowakei.

„City of Freedom“ heißt die Tour, zu der sie sich angemeldet haben. „Wir werden euch die wirkliche Geschichte erzählen“, kündigt sie an, bevor die Gruppe sich auf ihre Leihfahrräder schwingt und entlang der Amstel in die Innenstadt rollt.

Wir, das ist in diesem Fall Tours That Matter, ein junges, äußerst agiles Unternehmen, das in der überlaufenen niederländischen Hauptstadt am Gesicht des zukünftigen Tourismus feilt. Berber und ihre Kolleginnen Anouschka und Katjalisa arbeiteten einst bei einem großen kommerziellen Anbieter in Amsterdam. Unzufrieden mit Inhalten und Ansatz, kündigten sie und gründeten vor einigen Jahren TTM. Das Motto: “Touren als Mittel zur Veränderung“. Was unter dieser ambitionierten Ansage zu verstehen ist, sollen die nächsten Stunden zeigen.

Die Stadt der Freiheit

“Was wisst ihr über Amsterdam?“ Mit dieser Frage bricht Berber, die Jura studierte, eine Theaterschule besuchte und als Storyteller auftritt, nicht nur das Eis. Gleich beim ersten Stop, vor dem Stadthaus an der Amstel, das auch die Oper beherbergt, übergibt sie damit der Gruppe das Steuer und signalisiert: Ihr seid nicht nur hier, um zuzuhören, sondern um euch auszutauschen, aktiv einzutauchen in die Umgebung, in der ihr ein oder mehrere Semester leben werdet.

Die Antworten liefern reichlich Anknüpfungspunkte: “Freiheit, homofreundlich, Gras, mehr Fahrräder als Leute, regnerisch, vom Meeresspiegel bedroht.“ Berber weist auf das Rathaus und spricht von der weltweit ersten Homo-Ehe, die hier vor 21 Jahren geschlossen wurde. Und sie erzählt von der Kolonialgeschichte.

“Wir entdeckten Australien und Neuseeland, Brasilien und Surinam, kolonisierten Indonesien und begingen dort furchtbare Verbrechen. Und wir hatten eine nordamerikanische Kolonie – weiß es jemand? New York! So viel zum Einfluss von Amsterdam!“ Es deutet sich an dieser Stelle schon an, dass die Website von TTM nicht nur schöne Worte beinhaltet. “Die Geschichte verstehen, um sich die Gegenwart zu eigen zu machen und eine positive Zukunft zu schaffen“, heißt es dort.

In Zeiten wie diesen ist so etwas natürlich auch anschlussfähig für einen von Bewusstsein säuselnden Spätkapitalismus. Doch nicht mit Berber, die diesen Ansatz “mein geistiges Kind“ nennt. “Da steckt sehr viel Liebe drin“, sagt sie ohne jedes Pathos und betont: “Ich hatte dabei keine Marktlücke im Auge!“ An einer Gracht mit Sicht auf den Universitätscampus berichtet sie, wie das Reisen ihren eigenen Blick weitete und gesellschaftliches Bewusstsein, etwa durch Arbeit mit Geflüchteten, darin mehr Raum einnahm. Mehr und mehr prägte das auch die Inhalte, die sie auf ihren Führungen vermitteln wollte.

Inzwischen hat sie dafür allen Raum: im Uni-Gebäude, berichtet sie, war einst das Hauptquartier der Ostindien-Kompanie VOC. Der Gruppe sagt das wenig, nur eine Teilnehmerin hat darüber mal etwas gehört. “Auf der anderen Seite der Gracht wurde quasi der Aktionärskapitalismus geboren. Die Amsterdamer investierten in die VOC, und wie die ihre Profite machte, mit Sklavenhandel und Ausbeutung, interessierte hier niemanden.“ Immer nuancierter wird das Bild, das sie von ihrer Stadt entwirft: Auf der einen Seite stehen Kolonialismus und Unterdrückung, auf der anderen Toleranz und Religionsfreiheit.

Die Stadt mit ihren Widersprüchen

Es ist nicht so, dass diese Gegensätze nun noch vertieft werden. “Man muss je nach Gruppe ein bisschen fühlen, wie weit man geht“, so Berber unterwegs zwischen zwei Stops. TTM bietet durchaus Touren zu sehr spezifischen Themen an: Fair Trade, Gegenkultur, urbane Landwirtschaft oder Migration. Die heutige ist eine Art Übersicht, ein erstes Beschnuppern der neuen Stadt für Menschen, die hier einige Monate oder Jahre verbringen werden.

Im Laufe des mehrstündigen Rundgangs durch die Innenstadt nimmt die Interaktion mit den Stu­den­t*in­nen zu. Vor allem, als es um das Rotlichtviertel geht, eines dieser durchaus ambivalenten Symbole Amsterdamer Freiheiten. Die Gruppe bleibt außerhalb stehen, denn Führungen sind nicht mehr erlaubt, seit die Kommune den touristischen Ansturm im Zentrum beschränken will.

“Wart ihr schon mal dort?“, will Berber wissen. “Wie fandet ihr es?“ Einer der Däninnen waren die Schaufenster-Bordelle ein wenig zu offensiv. Dascha, die aus Minsk kommt, landete zufällig mit ihrer Mutter dort, als diese sie besuchte.

Anreise Direkte ICE fahren von Frankfurt über Köln und Düsseldorf sowie Berlin. Wer billiger reisen will: mit Regionalzügen von Düsseldorf nach Venlo oder Arnhem, dort weiter mit der niederländischen Bahn. Es gibt auch eine, allerdings zeitintensive, Verbindung von Bremen über Ostfriesland und Groningen. Außerdem Flixbus- Verbindungen in viele deutsche Städte.

Tours That Matter https://www.toursthatmatter.com/about/contact/

Nach drei Stunden endet die Tour vor der Centraal Station genau dort, wo so viele Be­su­che­r*in­nen mit Rollkoffern und oft stereotypen Vorstellungen von Amsterdam täglich ankommen. Anna-Maria aus Bratislava sagt zum Abschied, dass es ihr gefallen hat, in einer so touristischen Stadt nicht nur die Standardattraktionen zu besuchen. Dascha ergänzt: “Wir haben nicht nur Gebäude gesehen, sondern auch etwas über ihren Kontext erfahren.“ Helena, einer der Kopenhagenerinnen, hat sich besonders die Verbindung zwischen Uni und VOC eingeprägt. Allgemein bleibt der Tenor, nun auf eigene Faust losziehen und Amsterdam erkunden zu wollen.

Auch Berber ist zufrieden. “Für Austausch- Stu­den­t*in­nen ist es wichtig, dass sie nicht nur in ihrer Blase hängenbleiben, sondern eine Beziehung mit dieser Stadt aufbauen können.“ Womit sie beim Thema ist: Genau diese Beziehung ist das, was Tours That Matter meinen, wenn sie von “positiven Auswirkungen“ auf das touristische Ziel sprechen: ein Bewusstsein wecken für die sozialen, politischen, ökologischen Begebenheiten vor Ort. “Man verhält sich anders in einer Stadt, wenn man weiß, dass Menschen mit einer Geschichte dort wohnen. Beim Entwerfen einer Tour achten wir darauf, dass die Stadt einen Vorteil davon hat.“

Den verschiedensten Zielgruppen haben Berber und ihre Kolleginnen diesen Ansatz inzwischen nahegebracht: Anwälten aus dem Geschäftsviertel, einer jordanischen Handelsmission, internationalen Tourismusforscher*innen, Stu­den­t*in­nen aus In- oder Ausland. Berber ist von ihrem Konzept überzeugt wie eh und je: “Jede Tour, die wir machen, ist Pioniearbeit. Aber es funktioniert auch, denn bei einem bin ich mir ganz sicher: Niemand besucht doch einen Ort, um einen schlechten Einfluss auf ihn zu haben?“

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