Anthropologin über Großstadtlegenden: "Das Ungewisse aus der Tiefe"

Die Geschichte von dem kleinen Mädchen, das in Hannover eine Schlange in der Toilette fand, wird sich als moderne Sage weiterentwickeln, sagt die Göttinger Professorin Regina Bendix.

Die hannoversche Schlange, wie sie von einem siebenjährigen Mädchen in der Toilette gefunden wurde. Bild: dpa

taz: Frau Bendix, in Hannover hat ein siebenjähriges Mädchen eine lebende Boa constrictor zu Hause in der Toilette gefunden. Die Schlange flüchtete ins Abwasserrohr, aus dem sie tot geborgen wurde. So steht es in der Lokalzeitung. Glauben Sie die Geschichte?

Regina Bendix: Das sieht mir nach einem Tatsachenbericht aus. Der Vorfall wird mit Bildern belegt, und es wird ausführlich berichtet von der verantwortungsvollen Vermieterin, die die Handwerker holt, um sich zu vergewissern, dass das Tier weg ist. Die Normalsage würde einem nicht genug Details geben, anhand derer man nachher dingfest machen könnte, ob die Geschichte tatsächlich geschah.

Eine städtische Sage wie etwa die von den Krokodilen, die in den Abwasserkanälen New Yorks leben sollen, wäre also etwas, das man nicht zurückverfolgen kann.

Genau. Man nennt das im Englischen FOAF - Friend-of-a-Friend-Tale. Der Erzähler hat sie von einem Bekannten, dem er vertraut. Wenn man diese Person anruft, sagt sie: Ich habe das von meiner Tante gehört und die ist total verlässlich. Wenn man weiter nachforscht, verläuft sich die Geschichte meistens im Sand.

Wie geht es nun weiter mit der Geschichte von der Schlange in Hannover?

Ich vermute, dass die Geschichte zu weiteren Geschichten Anlass geben wird. Sie ist einfach zu gut, als dass man sie nicht weitererzählen möchte. Dabei wird sich der Ort verschieben, die Geschichte wird dann lokalisiert in Köln, Celle oder München, je nachdem, wer sie erzählt.

REGINA BENDIX 52, ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Bendix stammt gebürtig aus Brugg in der Schweiz und studierte Kulturanthropologie und Germanistik in der Schweiz und in den USA.

Moderne Sagen füllen ganze Bücher. Drei der berühmtesten sind:

Die Geschichte von der Yukkapalme, die ein Geräusch von sich gibt, wenn sie gegossen wird. Das Geräusch kommt von einem Spinnennest, das eines Nachts eine riesige Spinne entlässt.

Die Geschichte von der NASA, die für eine Million Dollar einen Kugelschreiber entwickeln ließ, der auch im Weltall funktioniert - während die Sowjetunion einfach einen Bleistift benutzte.

Die Geschichte von George Turklebaum, der in New York fünf Tage lang tot an seinem Schreibtisch gesessen haben soll, ohne dass es seinen Kollegen auffiel.

Die Menschen verfälschen den Ort des Geschehens?

"Verfälschen" ist zu hart gesagt. Die Menschen sind vergesslich, sie vergessen, wo die Geschichte gespielt hat, was sie erinnern, ist hier der Schrecken eines kleinen Mädchens ob einer Schlange. Außerdem ist die Sage eine Erzählgattung, die lokalisiert, um Glaubhaftigkeit zu erhöhen.

Wie viel Wahrheit steckt gemeinhin in Sagen?

Das kommt immer darauf an, was man als Wahrheit bezeichnet. Die Angst ist auch in der nicht faktisch verbuchbaren Sage wahr. Menschen erzählen Sagen, weil darin eine Potenz von Angst oder Häme oder wohligem Schauer enthalten ist. Das hat eine psychologische Wahrheit, die die Sage menschlich interessant macht und deswegen zu einem Inhalt wird, den man weitererzählen möchte.

Im hannoverschen Fall also das Monster aus der Tiefe, das auf einen wartet. Noch dazu …

… eine Schlange, noch dazu ein Mädchen. Sigmund Freud lässt grüßen. Diese Kombination gibt es oft.

Wie analysieren Erzählforscher solche Elemente?

Sie sehen sich die Kontexte an, in denen sie auftauchen. Hier hätten wir den Kontext "urbanes Leben", wir haben den Kontext "Gefährdung eines Kindes" - unsere Gesellschaft ist ja sehr auf die Ängste rund um Kinder eingestellt, weil wir viele Fälle von Kindesmisshandlungen hatten. Dann haben wir den Kontext der Abflussrohre. Das sind Bereiche, in die wir keinen Einblick haben. Wir bauen unsere Häuser in der Regel ja nicht selber, sondern verlassen uns auf Dienstleister. So eine Erzählung wie diese bricht das auf: Das Ungewisse aus der Tiefe meldet sich und wird - da bin ich ziemlich sicher - einen Erzählzyklus aus dieser Geschichte machen.

Das Krokodil im Abwassersystem von New York hat es zu einigen Kinderbüchern und Verfilmungen wie "Der Horror-Alligator" von 1980 gebracht.

Was in Mündlichkeit kursiert, wird aufgegriffen von professionellen Filmemachern. Auf alten Flugblättern aus der frühen Neuzeit können Sie auch damals moderne Sagen finden, die von Ort zu Ort getragen und von Bänkelsängern vorgesungen wurden. Das waren die Schauergeschichten der damaligen Zeit. Und wir haben eben unsere, die oft mit Technik zu tun haben, mit unguten Dingen wie zum Beispiel Abwasserrohren.

Wenn die hannoversche Geschichte eine Sage wäre - was hätte sie uns sagen sollen?

Letztlich sind in solchen Geschichten immer Momente konservativer Sozialkritik drin. Hier wäre die Kritik, dass man nicht weiß, was im Abwassersystem ist und dass wir exotische Tiere halten, die wir eigentlich nicht als Haustiere halten sollten. Die Sage ist eine Gattung, die versucht, den Status quo zu halten oder sogar noch einen Rückschritt zu machen. Die Sagen, die es um Aids-Erkrankungen gegeben hat - der Mensch in der Disco, der andere mit einer Nadel infiziert -, ist so eine sozialkritische Sage, die sich sowohl gegen Aids-Infizierte richtet wie gegen Menschen, die in die Disco gehen und nicht gut genug aufpassen. Diese Sagen sind Keulen in den Händen von Erziehungspersonen.

Was macht das Internet mit seinen Verbreitungs- und Überprüfungsmöglichkeiten mit modernen Sagen?

Es kommt darauf an, was Menschen mit solchen Inhalten machen wollen. Manche wollen etwas Literarisches oder Filmisches daraus machen. Andere wollen für sich selbst aufklären, ob das nun wahr oder nicht-wahr ist und informieren sich auf Websites wie www.urbanlegends.com.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.