Kolummne: Das Kreuz mit dem Schlitz

Anklagend steht meine Nachbarin vor der Tür, den Zollstock in der Hand. "Die EU hat eine neue Briefkastenverordnung erlassen", verkündet sie mir vorwurfsvoll. Und mein Briefkastenschlitz entspricht nicht der Norm.

Da ich mein Geld damit verdiene, über die Europäische Union zu berichten, bin ich ihrer Meinung nach für jeden Bürokratenblödsinn aus Brüssel irgendwie verantwortlich. "Müssen die sich denn überall einmischen?!" Sie hielt mir eine Broschüre der belgischen Post hin, die einen schicken türkisfarbenen Briefkasten im Stahlrohrrahmen zeigt, der auf einem roten Teppich steht. So hat ein ordentlicher Briefkasten auszusehen - und das schon seit dem 1. Januar 2008.

Meine Nachbarin betrachtete nachdenklich ihre holzverschnörkelte, mit ziseliertem Glas durchbrochene Jugendstiltür. Der zierliche messingbeschlagene Briefschlitz ist ganz diskret im Türsockel eingearbeitet, vierzig Zentimeter über dem Boden. Die Öffnung ist 2 Zentimeter hoch und 17 Zentimeter breit. Doch laut Verordnung vom 20. April 2007, veröffentlicht im belgischen Staatsblatt, dürfen Briefschlitze "im Regelfall" nicht tiefer als 70 cm und nicht höher als 170 cm über dem Erdboden angebracht sein. Ein dicker DIN-A4-Umschlag muss bequem durch passen. Die Verordnung verlangt deshalb eine Öffnung von mindestens 3 Zentimeter Höhe und 23 Zentimeter Breite.

So weit, so absurd. Es wird ja wohl niemand ernstlich verlangen, dass meine Nachbarin zur Säge greift und die denkmalgeschützte Tür ruiniert. Auch ein aufgeschraubter Blechkasten wäre nicht wirklich eine Augenweide. Wir beschlossen also, das Problem auf belgische Art zu lösen und die Broschüre im nächsten Papierkorb zu versenken.

In diesem Augenblick gesellte sich die Briefträgerin zu uns. Sorgenvoll nickte sie, als wir den Zielkonflikt zwischen normgerechten Briefschlitzen und Denkmalschutzauflagen vor ihr ausbreiteten. "Deshalb haben wir vor zwei Wochen ja gestreikt", erklärte sie. "Wegen der Briefkästen? Ich dachte, es ging um eine Lohnerhöhung", staunte ich. Die Briefträgerin machte eine verächtliche Handbewegung, als sei der Gedanke, die Postler könnten je für mehr Geld gestreikt haben, völlig abwegig.

"Liberalisierung", sagte sie dunkel. "12.000 Hilfskräfte sollen eingestellt werden, die kriegen 500 Euro im Monat, damit sie die Post in ihrem eigenen Viertel verteilen. Hausfrauenjobs. Und für das bisschen Geld kann man natürlich nicht verlangen, dass jemand große Umschläge in winzige Briefschlitze stopft." So weit, so schlecht.

Was hat die Europäische Union nun damit zu tun? In der belgischen Briefkastenverordnung wird die EU-Richtlinie 98/34/CE erwähnt, was mehrere belgische Gemeinden auf ihrer Website zur "Europäischen Briefkastenrichtlinie" zusammenfassten. Eine Richtlinie aus dem Jahr 1998, die sich nur mit Briefkästen befasst und zehn Jahre später von der belgischen Regierung in nationales Recht umgesetzt wird? So verrückt ist nicht mal die EU.

98/34/CE sorgt vielmehr dafür, dass nationale Normen nicht zu eng gefasst werden dürfen. Sonst müsste ein Briefkastenproduzent, der den belgischen Markt erobern will, vielleicht Boxenformate herstellen, die er nirgendwo sonst in der EU verkaufen kann. Das wäre schlecht fürs Geschäft. Meiner Nachbarin habe ich davon nichts erzählt. Sie hätte mir ohnehin nicht geglaubt.

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