Debatte Political Correctness: Altbewährte Redensarten

Was Roland Koch fordert, ist eine neurechte Variante von "politischer Korrektheit": Mit seinem "Anstandskatalog" will er den Lebensstil der vermeintlichen Mehrheit verteidigen.

"Leben wie in einem 50er-Jahre-Heimatfilm", so hieß ein Song der Gruppe Mutter aus dem Jahre 1994. Im Schlagerjargon wurde da geschwärmt von einer Welt, "wo ein Mann weiß, was er will, wo die Frau weiß, was sie bekommt, eine perfekte Natur lässt alles vergessen und lädt ein, sich wohlzufühlen". Das war natürlich sarkastisch gemeint. Wer wollte sich schon ernsthaft sehnen nach der Adenauer-Steinzeit mit ihren Kopfnotenparolen: "Ohne Fleiß kein Preis" oder "Ordnung ist das halbe Leben". Das ist doch von vorgestern. Oder doch nicht?

"Haben diese altbewährten Redensarten nicht gerade in einer immer komplexer werdenden Welt einen einfachen, tiefgründigen Sinn?", fragte hingegen Roland Koch kürzlich in der Bild-Zeitung, und legte gleich einen umfassenden "Anstandskatalog" vor. Wenn der hessische Ministerpräsident im Jahr 2008 versucht, mit Binsenweisheiten aus den Fünfzigerjahren, eine Wahl zu gewinnen, dann wird er schon wissen, was er tut - so wie 1999, als er mit einer Unterschriftensammlung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft das xenophobe Potenzial seiner Bembel-Gemeinde so weit ausschöpfte, dass er eine verloren geglaubte Wahl doch noch für sich entschied. "Ich bin der akzeptierte Sprecher einer schweigenden Mehrheit von Deutschen", selbstermächtigt sich Koch in Bild, dem Zentralorgan der schweigenden Mehrheit.

Den Zumutungen der ökonomischen Globalisierung wird gern mit einer kulturellen Renationalisierung und Provinzialisierung begegnet. Aber gibt es wirklich eine breite gesellschaftliche Regression in den mentalen Heimatfilmen der 50er, die notwendig wäre, damit Kochs Kulturkampf funktioniert? Welche Zeichen der Zeit haben seine Spin Doctors erkannt? Vielleicht diese: Nie wurde so viel deutsch gesungen in deutschen Hitparaden. Nie war so viel Heimat, Karneval und Lokalkolorit im deutschen Fernsehen. Mit Roger Cicero, Annett Louisan und dem kanadischen Swingstreber Michael Bublé landen aufgepimpte 50er-Jahre-Wiedergänger auch in linksgrünen Kreisen Erfolge. Die Frankfurter Rundschau feiert den bekennenden Reaktionär Martin Mosebach: "Unser Büchnerpreisträger", dasselbe Blatt widmet Udo Jürgens und Johannes Heesters je eine ganze Seite. Am selben Tag.

Warum auch nicht? "Unsere Sitten und Gebräuche sollen nicht mir nichts, dir nichts über Bord geworfen werden", erklärt ja auch der selbst ernannte Sprecher der schweigenden Mehrheit. "Einen bekannten Song im Radio hören, mitzusingen - das ist eine Art, Kontinuität in einer immer chaotischeren Welt zu finden": Diese Weisheit stammt nicht aus dem Anstandskatalog, sondern von dem Schriftsteller Jerry Oster. Sie ist ein Leitmotiv für die Programmgestaltung populärer Radiosender: Ordnung stiften in einer unübersichtlichen Welt. Das Beste aus den 70ern, 80ern, 90ern und von heute: keine Experimente!

Roland Koch entstammt dem Milieu der christlich-konservativen Sekundärtugendpflege und versucht, dessen schlafende Energien zu wecken. Sind seine Forderungen nach einem "Warnschussarrest" und sein Anstandskatalog der letzte Amoklauf eines Ewiggestrigen? Nein. Neokonservative vom Schlage Kochs haben ihren Huntington gelesen und erkannt, dass das Konzept des Clash of Civilizations nicht nur im Weltmaßstab funktioniert, sondern auch im Aktionsradius des Hessischen Landboten. Koch spricht für eine "schweigende Mehrheit", der Multipolarität, Multikulturalismus und das ganze Multiple-Choice-Gedöns zum Hals raushängt. Neu ist, wie er deren Sehnsucht nach klaren Regeln bedient. Mit seinem Anstandskatalog setzt sich Koch an die Spitze einer Bewegung, die man provisorisch "Political Correctness von rechts" nennen könnte.

Im größten Einwanderungsland der Erde, den USA, wurde Political Correctness ja einmal erdacht, um Regeln zu setzen im Dienste von Gleichberechtigung, Integration und Minderheitenschutz. In Deutschland kam die Rede von PC dagegen nur als Schreckgespenst an, als Karikatur vom linkem Tugendterror einer Sprachpolizei. Man leiste heroischen Widerstand gegen die angebliche Diktatur der Politisch Korrekten - diese rhetorische Floskel gehört inzwischen zum Standardrepertoire konservativer und reaktionärer Politiker. Lästiger noch sind die Kulturindustrienullen, die mit ihrer gratismutigen Inkorrektheit kokettieren, wenn sie es wagen, bei Rot über die Ampel zu gehen.

Doch das neokonservative Projekt "PC von rechts" geht weiter. Es dient dem Schutz (vermeintlich) majoritärer Lebensstile vor den zersetzenden Giften des Multiplen. Kochs "Anstandskatalog" definiert erstmals auf kanonische Weise, was sich untergründig, quasi molekular, schon länger zusammenbraut: eine Post-9/11-Neuauflage der Kohlschen "geistig-moralischen Wende", nun unter den Bedingungen des innerstaatlichen Clash Of Civilizations. Es wächst zusammen, was zusammengehört: das "Schluss mit lustig" des ZDF-Predigers Peter Hahne, das "Lob der Disziplin" des Bestsellerautors Bernhard Bueb und Rudy Giulianis "Zero Tolerance"-Politik, in Hessen ergänzt um "altbewährte Redensarten".

Der öffentliche Dienst sei ein Dienst, erklärte Hessens Innenminister Bouffier jüngst, "kein Platz der Selbstverwirklichung" - also kein Platz für Kopftuchfrauen. Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps: Im Sinne dieser "altbewährten Redensart" wird an einer neuen Etikette und an der Wiedererrichtung von Tabus gearbeitet - vorzugsweise von solchen, die 1968 gebrochen wurden. Dazu gehört die Trennung des Privaten vom Politischen, hinweggefegt von der so genannten "sexuellen Revolution". Heute erleben wir die Reprivatisierung von Sexual Politics, auch zum Schutz der Intimsphäre vor medialen Tyrannen der Intimität. Was Joschka Fischer und Helmut Kohl in den eigenen vier Wänden treiben, das ist ihre Privatsache - dieser Satz ist inzwischen wieder Konsens.

Privatsache, wenn Fischer seine Frauen regelmäßig durch Jüngere ersetzt, sobald diese das Verfallsdatum von dreißig erreicht haben? Diese Praxis politisch zu beurteilen ist heute passé & tabu, während Fischer seine Body Politics, sein öffentliches Ab- und Zunehmen, selbstverständlich zu Bestsellern vermarktet.

Wie Tabus wieder errichtet werden, zeigen auch die Reaktionen auf die Äußerung Wolfgang Thierses, die dieser nach dem Rücktritt von Franz Müntefering gemacht hatte. "Seine Frau im Dunkeln in Ludwigshafen sitzen zu lassen, wie es Helmut Kohl gemacht hat, ist kein Ideal." Bekanntlich litt Hannelore Kohl unter einer Lichtallergie und nahm sich 2001 das Leben. Einhellige Empörung schlug dem Bundestagspräsidenten entgegen: eine skandalöse Einmischung in die Privatsphäre! Dass Frau Kohls Selbstmord möglicherweise auch mit dem Gefühl der Vernachlässigung durch den abwesenden Gatten zu tun haben könnte - diesen Gedanken durfte man noch denken, aber nicht mehr aussprechen.

Besonders laut über Thierse regte sich damals übrigens Roland Koch auf. KLAUS WALTER

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