die wahrheit: Das Wonzbacher Wurstwerfen

Tage des geheimnisvollen Brauchtums: Besinnlich auf den Schädel, bis alle lachen.

Wonzbacher Wurstwerfweib mit ihrem Arbeitsgerät Bild: ap

Der erste Satz eines Artikels über traditionelle Bräuche ist wahrscheinlich bereits der wichtigste. Daher ist ein Satz wie "Der erste Satz eines Artikels über traditionelle Bräuche ist wahrscheinlich bereits der wichtigste." für einen geschmeidigen und damit gleichsam gelungenen Textbeginn wohl auch nicht die allerschlaueste Wahl, sondern vielmehr sogar eher ziemlich blöd.

Besser und sinnvoller wäre da schon ein Einstieg des Kalibers "Nicht umsonst gilt Beharrlichkeit als das Ideal der Jesuiten." Und so ist es dergestalt auch nicht weiter verwunderlich, dass gerade in ländlichen Gefilden zum Jahreswechsel beständig und beharrlich an allerlei besinnlichen Traditionen festgehalten wird.

Doch all jene typischen Neujahrs- und Silvesterbräuche wie etwa Bleigießen, Karpfen-Essen oder Sich-gegen-den-Strich-Kämmen wirken trotz ihrer generationsgestählten Stringenz bisweilen doch ein klitzeklein wenig altbacken.

Wie erfrischend, weil überregional kaum bekannt, mutet dagegen eine aus dem 18. Jahrhundert stammende Sitte an, die im mittelhessischen Dörfchen Wonzbach seit ebenjener Zeit ausgesprochen engagiert gepflegt wird. Das traditionelle Wonzbacher Wurstwerfen geht auf den um 1760 verstorbenen einheimischen Bauern Wilhelm Brüschner zurück, der im Übrigen seinerzeit sogar - und ob seiner Klugheit wahrlich nicht zu Unrecht - für mehrere Jahre Wonzbacher Bürgermeister respektive Schultheiß war.

Bild: tom

Brüschner, so die Legende, ärgerte sich an einem Neujahrstag nämlich wegen einer vermeintlichen Kleinigkeit so sehr über seine Gemahlin Edda, dass er sie nach einem ehelichen Streit aus dem Hause und damit gleichsam vom ehelichen Hofe jagte, indem er ihr eine hausgemachte Räucherwurst durch die Türe hinterherwarf und Edda damit - zu seinem eigenen Erstaunen - tatsächlich blitzsauber am Kopf traf. Die Bäuerin wiederum soll nach diesem Überraschungstreffer die Wurst aufgehoben und sie nun ihrerseits dem Gatten ans Haupt geschmettert haben.

Angeblich wiederholte sich dieser Vorgang in seiner ganzen Lächerlichkeit laut damaligen Zeugenaussagen mehrfach, so dass die ehelichen Wurstwerfer am Ende gar nicht anders konnten, als die Nichtigkeit und komplette Überflüssig- bis Sinnlosigkeit ihres Tuns zu erkennen und sich wieder lachend in die Arme zu schließen.

So wird bis zum heutigen Tage am ersten Tag des frischen Jahres unter den Ehepaaren von Wonzbach der Brauch gepflegt, sich gegenseitig über die Türschwelle hinweg Hartwürste auf den Schädel zu hämmern - und zwar so lange, bis beide Partien von Herzen lachen.

Kurzum, eine sympathische und nicht zuletzt gerade in unserer immer hektischer daherpolternden Zeit hochaktuelle Tradition, die da von den liebenswerten Wonzbachern gepflegt wird. Denn wer kann heutzutage schon von sich behaupten, den allgemeinen Unzulänglichkeiten im täglichen Miteinander dergestalt ruhig und sachlich zu trotzen, wie es weiland die Eheleute Brüschner so wunderbar unisono demonstrierten?

Und wie schön ist doch ein prophylaktisch bereits zu Januarbeginn künstlich im Scherz herbeigeführter Kleinstreit samt dazugehöriger ordnungsgemäßer Versöhnung, wenn man sich dadurch den Rest des Jahres von Ähnlichem verschont und und damit sicher weiß.

Gepriesen sei also das traditionelle Wonzbacher Wurstwerfen, das auch an diesem Neujahrstag in ritualisierter Form, umrahmt von allerlei Würstchenbuden, erneut auf dem zuständigen Dorfplatz stattfand. Leider - wie es ebenso seit je Tradition ist - wieder unter streng kontrolliertem Ausschluss der außerwonzbacherischen Öffentlichkeit.

Schade. Doch letzten Endes eine Übung, die man zur persönlichen Beziehungsbereinigung ja auch bestens und ohne Weiteres geschmeidig in den eigenen vier Wänden nachstellen kann.

Denn gerade im Rahmen der zunehmenden Individualisierung und der damit einhergehenden Anonymisierung der Gesellschaft stellt das Wonzbacher Wurstwerfen allein aus anthropologischer, anthroposophischer und nicht zuletzt kulinarisch-psychologischer Sicht eine durchaus bemerkenswerte Kompensierung einer heutzutage an und für sich recht komplexen Beziehungsstruktur dar.

Oder um es mit den Worten Vitali Klitschkos zur Willkür und Schwammigkeit von Punkturteilen im Boxsport auszudrücken: "Mann am Boden: Jeder versteht."

Der letzte Satz eines Artikels über traditionelle Bräuche ist hingegen weniger wichtig. Und kann daher auch durchaus "Der letzte Satz eines Artikels über traditionelle Bräuche ist hingegen weniger wichtig." lauten.

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kari

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