Montagsinterview: "Kleine Filme sind legitim"

Er hat das Forum des jungen Films bei der Berlinale und das erste kommunale Kino gegründet. Jetzt wird Ulrich Gregor 75.

taz: Herr Gregor, Sie sollen einmal gesagt haben "Ich erlebe die Realität eines Landes eher auf der Leinwand als in der Wirklichkeit". Hat sich was an diesem Zustand verbessert? Immerhin sind sie nicht mehr als "Weltreisender in Sachen Kino" auf der Suche nach Filmen für die Berlinale unterwegs.

Ulrich Gregor ist gerade aus Venedig zurück. Er gehörte dort zur Jury der Filmfestspiele. Nach eigenen Angaben hat er die Zeit am Lido fast ausschließlich im Kino verbracht. Das ist nichts Ungewöhnliches. Gregors Leben ist das Kino. Es war - und ist - ein leidenschaftliches Leben für den unabhängigen Film und für die Filmkunst weltweit. Gregor ist auch eine große Schlüsselfigur des Berliner Kinos. Mit seiner Frau Erika gründete er das "Arsenal", den Verein "Freunde der deutschen Kinemathek" und war von 1971 bis 2001 Leiter des "Internationalen Forums des jungen Films". Viele sagen, das war der bessere Teil der Berlinale. Am Dienstag feiert der gebürtige Hamburger seinen 75. Geburtstag.

Ulrich Gregor: Viel unterwegs sind meine Frau und ich immer noch. Das Amüsante dabei ist doch, die Reisen verlaufen meist nach einem bestimmten Muster. Wir kommen am Flughafen an, fahren in einen Vorführraum, sind zwischendurch in einem Hotel und kehren zum Flughafen zurück. Aber wenn Sie wüssten, in welch kuriosen Gegenden Vorführräume manchmal angesiedelt sind und welche Menschen dort leben und arbeiten und mit welchen Filmen man konfrontiert wird, dann ist das mehr als nur ein durch die Leinwand vermittelter Zugang zur Realität.

Sie düsen also noch immer herum und begeistern sich für unabhängige Filme? Sie sind ein unverbesserlicher Kino-Junkie.

Ich empfinde das ja nicht als Mangel. Es ist meine Art, mich im Leben und in der Realität zu bewegen. Durch die Filme haben sich Freundschaften in aller Welt, auch über große Distanzen, entwickelt.

Sie können nicht loslassen, oder?

Nein? Ich habe die Leitung des Internationalen Forums junger Film auf der Berlinale seit Jahren abgegeben, sitze dort nicht mehr in Auswahlkommissionen oder mache Programme. Gut, ich betreue noch die ein oder andere Reihe im Kino Arsenal. Und, wie gesagt, wir reisen noch immer gerne, wie in der vorvergangenen Woche, da saß ich in der "Orrizzonti"-Jury der Filmfestspiele von Venedig. Ich kann es mir, ehrlich gesagt, auch kaum anders vorstellen. Wir haben so viel aufgebaut in Berlin mit unserer filmischen Arbeit. Das prägt, und davon kann man sich nicht einfach verabschieden. Eine Filmkritikerin schrieb einmal: Wir können nur hoffen, dass die Helden nicht müde werden.

Sie sind Filmhistoriker, Publizist, Mitbegründer der "Freunde der deutschen Kinemathek" und des Arsenals, des ersten deutschen Kommunalen Kinos. 1971 haben Sie als Leiter des Forums das zweite große Standbein der Berlinale geschaffen. Hatten Sie nie den Wunsch, selbst Filme zu drehen?

Ich komme ja ursprünglich aus der Filmkritik. Aber ich habe nie das Schreiben über Film nur als eine Durchgangsstation auf dem Weg, selbst Filme zu machen, betrachtet. Schreiben über Film hat seine eigene Legitimität - auch wenn es genug Beispiele gibt, wo das Fach gewechselt wurde, wie etwa von vielen Regisseuren der Nouvelle Vague. Es gibt doch auf der Welt sehr viele Filmregisseure und täglich werden so viele Filme gedreht. Warum sollte man nun noch einen hinzufügen?

Was war für Sie die Initialzündung, sich für das junge, unabhängige Kino zu begeistern - und den Mainstream beiseite zu lassen?

Als ich in der Nachkriegszeit etwa die Filme des italienischen Neorealismus mit den frühen Werken von Rossellini, de Sica oder Luchino Visconti sah, war ich begeistert. Ebenso vom französischen Kino. Auch die Wiederentdeckung von Chaplin war von großer Bedeutung. Nach der NS-Zeit erschloss sich dies alles für mich als eine Sphäre großer Entdeckungen.

Welche Vorbilder machten den Filmkritiker aus Ihnen?

Fundamental wichtig war Siegfried Kracauers Werk "Von Caligari bis Hitler". Hier wurde der klassische deutsche Film mit einem Blick auf die Gesellschaft beschrieben. Das war eine Erleuchtung, lange Jahre wurde dadurch bei der Zeitschrift Filmkritik unser Denken und Fühlen bestimmt. Kracauer schrieb uns auch einmal aus den USA: "Halten Sie ihre Klingen scharf!" Die andere Figur war Lotte Eisner und ihr Buch "Die dämonische Leinwand". Meinen Anspruch, das Kino und den Film als künstlerische Disziplin ernst zu nehmen, sah ich dort vorbereitet.

War es zugleich eine Absetzbewegung vom Kino der Nazis und dem der 50er-Jahre?

Natürlich. Es war klar, dass sowohl im Kino als auch in allen Bereichen der Künste eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte stattfinden musste.

Was ist eigentlich ein so genannter unabhängiger Film?

Das ist schwer zu definieren. Für mich bedeutet unabhängiger Film eine filmische Artikulationsweise, die sich nicht kommerziellen Erwägungen unterwirft. Im Idealfall entsteht ein solcher Film nach eigenen Bedürfnissen unabhängig von Auftraggebern oder Zensurinstanzen. Hinzu kommen Filme, die neue Erzählweisen und filmische Strategien ausprobieren und die ausgetretenen Pfade verlassen. Das lässt sich beim Dokumentarfilm oder dem Experimentalfilm besonders gut aufzeigen. Da gibt es Regisseure, die einfach keine Kompromisse eingehen. Solche Leute genießen meine Sympathie.

Was sind das für Typen, die unabhängige Filme drehen? Sie müssen doch Hunderte kennengelernt und in der Erinnerung haben.

Der amerikanische Regisseur Jim Jarmusch ist so ein Typ. Jarmusch hatten wir 1981 im Forum mit "Permanent Vacation" und er war damals der Prototyp des unabhängigen Filmemachers und ist es in gewisser Weise noch heute. Er hat zwar eine Entwicklung durchgemacht und ist im System der industriellen Filmproduktion angekommen. Trotzdem muss man sagen, dass er noch immer seine eigene Handschrift hat, eine große Individualität besitzt und wenige Kompromisse eingeht. Das Klima von Unabhängigkeit besteht in der Ablehnung von Kompromissen, dem Nichtschielen nach Zuschauerzahlen und Geld. Die Existenz dieses Kinos ist ungemein wichtig. Und für mich bedeutet es keine Nische.

Aber das unabhängige Kino ist durch die wahnsinnige Kommerzialisierung bedroht. Eine Dynamik wie die der Autorenfilmer der 70er- und 80er-Jahre ist schwer erkennbar.

Das sehe ich genauso und das macht mir Sorge. Auf der anderen Seite vertraue ich darauf, dass die Zuschauer sich nicht ganz von der Mainstream-Maschinerie erfassen lassen und sich "Gehirnwäschen" unterziehen. Ich denke, dass es immer ein Bedürfnis nach Filmen geben wird, die eine andere Sprache sprechen, andere Erzählformen wählen und andere Wege gehen. Wir haben es beim Forum ja erlebt: Filme, die im Kino-Alltag wegen ihres hohen Schwierigkeitsgrades einen sehr schweren Stand hätten, wurden hier gefeiert und intensiv diskutiert. Wenn man eine Struktur mit einer bestimmten Ausrichtung schafft wie beim Forum, kann man der Unabhängigkeit und neuen Themen zum Leben verhelfen. Kleine Filme sind legitim, es ist nichts verloren.

War das auch Ihre Botschaft an die Berliner Filmfestspiele, als nach dem Berlinale-Krach 1970 - Michael Verhoevens Anti-Vietnamkriegs-Film "O.K." sollte aus dem Programm fliegen und das Festival wurde abgebrochen - 1971 das Forum gegründet und als Spielstätte für avantgardistische Programme installiert wurde?

Es musste damals was passieren, die Berlinale war nicht mehr zeitgemäß: Unsere Botschaft war und ist bis dato, dass das Forum eine Bühne für den unabhängigen Film darstellt und die Bedürfnisse eines Publikums ernst nimmt, das nicht nur am Wettbewerb und dem Mainstream interessiert ist - sondern an Entdeckungen und Filmen, die herausfordern, vielleicht auch irritieren, die auf jeden Fall zur Diskussion zwingen. Dafür entstand die Berlinale-Sektion Forum. Ich sage immer, wir wurden gerufen, die "gefährlichen" und "schwierigen" Filmen zu zeigen. Wichtig war uns damals aber auch, ein Filmarchiv anzulegen. Wir wollten, dass unsere Filme nicht zehn wunderbare Tage gezeigt werden und dann verschwinden, sondern dass die Kopien hier lagern, ausgewertet, verliehen oder in Programmen abgespielt werden konnten. Heute umfasst unser Bestand ungefähr 8.000 Filmtitel. Das ist ein Rückblick auf die Geschichte des Forums und des unabhängigen Films. Manchmal kommen Leute aus dem Ausland und wollen Filme ausleihen, weil es von diesen dort keine Kopien mehr gibt.

Lange Zeit sprach man vom Forum als Gegenberlinale, kritisierte es als linkes filmpolitisches Instrument, es gab Streit.

Wir sahen uns von Anfang an in einer Konfrontation zur "Haupt-Berlinale". Diese Konfrontation war aber nicht so gemeint, dass wir das Ruder übernehmen und uns an Stelle des Festivals setzen wollten. Wir wollten ein Teil der Berlinale sein, betrachteten diese sogar als wichtigen Spiegel der internationalen Kinematographie, wenn auch mit beschränkter Bandbreite und einseitig kommerzieller Ausrichtung. Aber zugleich wollten wir etwas ganz anderes, Radikaleres und Gegensätzlicheres zur Berlinale sein - dies aber mit gleichermaßen gesellschaftlich-politisch und ästhetisch-formal wichtigen Beiträgen. Ein Kritiker hat das einmal auf die Formel gebracht, dass wir zwischen Barrikade und Elfenbeinturm stünden. Es war darum kein Wunder, dass das Forum da von Anfang an mit großem Misstrauen betrachtet wurde, wir bekamen auch nur Verträge für ein Jahr. Trotzdem erhielten wir immer mehr Zuspruch und Beifall für unser Konzept. Die Konkurrenzsituation bestand sogar noch bis ins Jahr 2000, als das Forum längt arriviert war. Der damalige Berlinale-Chef Moritz de Hadeln wollte uns immer Filme wegschnappen für sein Wettbewerbsprogramm. Damals waren de Hadeln und ich Gegner, Antipoden, heute versuchen wir das abzuschütteln. An der Rivalität war aber damals gut, dass jeder sein eigenes Profil schärfen und weiterentwickeln konnte. Wir mussten oft um unsere Existenz kämpfen, das hat uns motiviert, hat uns Mut und Kraft gegeben.

Berlinale Besucher kennen die Szene: Ein Forum-Film ist zu Ende, ein Holztisch wird aufs Podium gestellt, daran nehmen Sie und die Regisseure Platz und diskutieren über den Beitrag. Fast alle, die heute Rang und Namen haben, saßen dort mit Ihnen: Jean-Luc Godard, Jutta Brückner, Claude Lanzmann, Aki Kaurismäki, Jarmusch und viele andere. Bis zuletzt, 2001, haben Sie das gemacht, warum war Ihnen das so wichtig?

Ja, ja, der Tisch! Es war von Anfang an unsere Maxime: Über die Filme zu reden und nachzudenken ist ebenso wichtig, wie sie zu zeigen. Natürlich war es mir ein Anliegen, bei den Gesprächen nach dem Film in das Zentrum der Filme vorzudringen, herauszubekommen, was ihr wesentlicher Kern ist. Es ging aber auch darum: Die Filmemacher sollten mit dem Publikum ins Gespräch kommen, deren Reaktionen kennenlernen, Fragen beantworten. Der Dialog zwischen Zuschauer und denen, die Kino machen, war mir zentral wichtig.

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