Türkei: 301 für alle Fälle

Türkische Nationalisten instrumentalisieren den Paragrafen gegen die Beleidigung des Türkentums. Jüngstes Opfer: der Sohn von Hrant Dink.

Trauer um den ermordeten Journalisten Hrant Dink: Nun sitzt dessen Sohn Arat Dink auf der Anklagebank Bild: dpa

Kurz vor der Wahl am vorvergangenen Sonntag fand in Istanbul ein Prozessauftakt statt, der nur noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekam. Arat Dink, der Sohn des im Januar ermordeten armenischen Publizisten Hrant Dink, war, wie zuvor schon sein Vater, nach dem berüchtigten Paragrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuches angeklagt worden, der unter anderem die Beleidigung des "Türkentums" unter Strafe stellt.

Arat Dink arbeitet für die türkisch-armenische Wochenzeitung Agos, deren Gründer und Chefredakteur sein Vater war. Ob die Anklage gegen Arat aufrechterhalten wird, hat das Gericht noch nicht entschieden. Das Verfahren wurde schnell auf den Herbst vertagt, nach dem Wahlsieg der AKP ist seine Einstellung wahrscheinlich.

Denn der Streit über den Strafrechtsparagrafen, der durch die Anklagen gegen Orhan Pamuk und andere bekannte Schriftsteller und Journalisten auch in Europa zu trauriger Berühmtheit gelangte, ist kein juristisches Problem. Zwar ist die Forderung aus der EU-Kommission, die Vorschrift ersatzlos zu streichen, sicher berechtigt, doch das eigentliche Problem ihrer politischen Instrumentalisierung wird damit nicht gelöst.

Aufhänger für die Prozesse war fast immer die Auseinandersetzung um die Definition des Massenmordes an den türkischen Armeniern während des Ersten Weltkrieges. Je mehr der Westen darauf drängte, die Türkei müsse anerkennen, dass es sich dabei um einen Völkermord handelte, umso massiver schlugen die türkischen Nationalisten zurück. Fast alle Anklagen kamen aufgrund von Anzeigen eines rechtsextremen Juristenverbundes zustande, deren Chef Kerenzis monatelang die Schlagzeilen beherrschte, weil es ihm immer wieder gelang, Staatsanwälte zu finden, die seine Anzeigen akzeptierten und Verfahren einleiteten, die zwar in der Regel dann eingestellt wurden (wie im Falle Pamuks) oder zu Freisprüchen führten (wie bei der Schriftstellerin Elif Shafak), aber für die Nationalisten dennoch große Propagandaerfolge waren.

Zurzeit ist der Vorwurf der Beleidigung des Türkentums aus den Schlagzeilen verschwunden, weil die nationalistische Kampagne vorübergehend eingestellt zu sein scheint - genau wie die Diskussion über den armenischen Völkermord, die im letzten Jahr so leidenschaftlich geführt wurde. Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat vor den Wahlen eine komplette Streichung des Paragrafen 301 mehrfach abgelehnt, sich aber für Modifikationen offen gezeigt. Nach seinem klaren Wahlsieg kann es nun gut sein, dass die Vorschrift in einigen Monaten entschärft wird und vor allem der Begriff des "Türkentums" verschwindet.

Doch der Regierung Erdogan ist wohl auch bewusst, dass mit einer Veränderung des Paragrafen das Problem der politischen Instrumentalisierung von Strafvorschriften nicht gelöst ist. Wenn es darauf ankommt, wird sich auch eine andere finden lassen, mit deren Hilfe Teile der Gesellschaft erneut versuchen werden, dringend notwendige politische Auseinandersetzungen zu unterdrücken.

Damit stehen die Nationalisten aber letztlich auf verlorenem Posten. Schon an der Kurdenfrage hat sich gezeigt, dass die Debatte darüber auf Dauer nicht per Strafandrohung verhindert werden kann. Das wird sich auch an der Armenierfrage zeigen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.