Verfassungsreferendum in Chile: Der Frühling beginnt am 4. September

An diesem Sonntag stimmen die Chilenen über eine neue, linke Verfassung ab. Sie soll die aktuell gültige aus der Pinochet-Diktatur ersetzen.

Menschen demonstrieren für "Apruebo"

Unterstützer der „Apruebo“-Kampagne in Valparaiso, Chile Foto: rtr

SANTIAGO DE CHILE taz | „Apruebo“ – ich stimme zu – steht auf den bunten Fahnen geschrieben, die tausende Menschen auf der Alameda, der Hauptverkehrsader von Chiles Hauptstadt Santiago, wehen. Sie sind zusammengekommen, um ihre Zustimmung für die neue Verfassung auszudrücken, über die an diesem Sonntag abgestimmt wird. Die Alameda ist dieselbe Straße, auf der im Oktober 2019 Millionen von Menschen gegen soziale Ungleichheit und neoliberale Politik protestierten. Sie stießen den verfassungsgebenden Prozess an.

„Ich komme hierhin, seit der soziale Aufstand begonnen hat“, sagt der 25-jährige Alex Molina, der mit seinen Freunden gekommen ist. „Heute hier so viele Menschen zu sehen ist bewegend.“ Der 25-jährige Biologie-Student erhofft sich durch die neue Verfassung ein gerechteres Bildungssystem und mehr Umweltschutz. Der Verfassungsentwurf beschützt unter anderem die Rechte der Natur und verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. „Die neue Verfassung wäre ein erster Schritt, um Veränderungen Raum zu geben – angestoßen von den Menschen auf der Straße.“

„Ein neues Chile wird erblühen“, ist in weißen Buchstaben zu lesen, die die Straßenkunst-Gruppe Brigada Ramona Parra ein paar Meter weiter mit großen Pinseln an eine Wand malt. Bekannt wurde die Gruppe während der Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, der am 11. September 1973 ums Leben kam, als das chilenische Militär beim Putsch den Regierungspalast La Moneda bombardierte. Darauf folgten 17 Jahre Militärdiktatur, Linke wurden verfolgt, gefoltert und getötet. Auch die Brigada Ramona Parra musste untertauchen. Die aktuell in Chile gültige Verfassung stammt aus der Pinochet-Diktatur und stellt die Grundlage des Neoliberalismus dar, der seitdem die chilenische Gesellschaft bestimmt.

Auf der Alameda trommeln Batucada-Gruppen, Mu­si­ke­r*in­nen mit Blasinstrumenten spielen Protestlieder, Schauspieler*innen, Ko­mö­di­an­t*in­nen und Mu­si­ke­r*in­nen wie Anita Tijoux treten auf einer Bühne auf. Die Veranstaltung zum Abschluss der „Apruebo“-Kampagne gleicht einem Fest. Kinder springen auf einer Hüpfburg, Stra­ßen­ver­käu­fe­r*in­nen bieten gebundene Ausgaben der Verfassung, T-Shirts, Fahnen und Sticker mit der Aufschrift „Apruebo“ an. Um die 500.000 Menschen sind hier zusammengekommen, schätzt die chilenische Zeitung La Tercera.

Neue Verfassung will Sorgearbeit als „notwendig“ anerkennen

Bei der Veranstaltung zum Abschluss der Kampagne des „Rechazo“, also der Geg­ne­r*in­nen der Verfassung, sind hingegen nur zwischen 300 und 400 Personen zusammengekommen. Anstatt bunter Fahnen, schwenken die Menschen hier chilenische Nationalflaggen. „Wir wollen eine Nachricht der Liebe und der Hoffnung verbreiten, wir sind gegen die Spaltung und gegen die Gewalt“, sagt Claudio Salinas, einer der Sprecher der Kampagne bei der Veranstaltung zu Journalist*innen.

„Am Wochenende wurden wir von Vertretern des ‚Rechazo‘ angegriffen, sie wollten uns verprügeln“, sagt Cecilia Castillo, die zur Veranstaltung des „Apruebo“ gekommen ist. Die 50-Jährige lebt in Pirque, einer ländlichen Gemeinde südöstlich von Santiagos Innenstadt. „Rechazo und Liebe? Das gibt es nicht“, sagt Castillo.

Sie ist arbeitslos, weil sie ihre Enkelkinder unbezahlt betreut. Die neue Verfassung verpflichtet unter anderem den Staat, Haus- und Sorgearbeit als „gesellschaftlich notwendig und für die Nachhaltigkeit des Lebens unerlässlich“ anzuerkennen und als eine wirtschaftliche Aktivität, die zur volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beiträgt. „Ich finde den Entwurf für die neue Verfassung gut und ich habe Hoffnung, dass wir gewinnen werden“, sagt sie. Neben ihr hält eine Frau ein selbstgebasteltes Schild in die Höhe mit der Aufschrift: „Am 4. September beginnt der Frühling.“

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