Konflikt um Bergkarabach: Paschinjan legt sich mit Moskau an

Armenien erteilt Militärmanövern unter russischem Kommando im Land eine Absage. Der Grund ist Moskaus Passivität im Bergkarabach-Konflikt.

Portrait

Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan Foto: Tigran Mehrabyan/ap

BERLIN taz | In der Südkaukasusrepublik Armenien werden in diesem Jahr keine Manöver des von Russland geführten Militärbündnisses „Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit“ (OVKS) stattfinden. Das kündigte Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Jerewan an.

Damit widersprach Paschinjan einer Ankündigung aus Moskau vom 1. Januar, wonach das jährliche Großmanöver „unverbrüchliche Bruderschaft“ 2023 in Armenien stattfinden werde. Er gehe von einem Missverständnis aus. Das armenische Verteidigungsministerium habe die OVKS bereits darüber informiert, dass die Abhaltung von Manövern in der derzeitigen Situation unangebracht sei, sagte Paschinjan. Das OVKS-Sekretariat erklärte seinerseits am Mittwoch, keine offizielle Mitteilung der armenischen Seite erhalten zu haben.

Der OVKS, die 2002 gegründet worden war, gehören neben Russland und Armenien auch Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan an. Vor fast genau einem Jahr hatte Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew um die Entsendung von OVKS-Truppen gebeten, um Massenunruhen in seinem Land niederschlagen zu lassen. Der Bitte war umgehend entsprochen worden.

Im Falle Armeniens, das im Konflikt mit dem Nachbarn Aserbaidschan um das Gebiet Bergkarabach auf Beistand der OVKS drängt, übt sich Moskau, zum Ärger Paschinjans, jedoch in vornehmer Zurückhaltung. Der Konflikt um das von Ar­me­nie­r*in­nen bewohnte Bergkarabach, der Anfang der 90er Jahre in einen Krieg mündete, war im Herbst 2020 mit voller Wucht wieder ausgebrochen. Nach 44 Tagen kam unter Vermittlung Russlands ein Waffenstillstandsabkommen zustande, das für Jerewan gleichbedeutend mit einer schmachvollen Niederlage war.

Die Blockade des Latschin-Korridors, die Russland bislang mit Untätigkeit quittiert, könnte für die rund 120.000 Ar­me­nie­r*in­nen in Bergkarabach schon bald zu einer humanitären Katastrophe werden.

Bestattungen im Akkord

Armenien verlor nicht nur die Kontrolle über sieben an Bergkarabach angrenzende Gebiete, sondern auch über Teile von Bergkarabach selbst – darunter die symbolträchtige Stadt Schuscha (Armenisch Schuschi). Die Durchsetzung des Abkommens sollen russische Friedenstruppen garantieren. Dazu gehört auch der Schutz des sogenannten Latschin-Korridors, der einzigen Verbindungsstraße zwischen Armenien und Bergkarabach.

Im vergangenen September kam es erneut zu Kampfhandlungen, allein auf armenischer Seite wurden rund 100 Soldaten getötet. Auf dem Jerewaner Soldatenfriedhof Erablur fanden Bestattungen im Akkord statt. Die armenische Seite behauptete, aserbaidschanische Truppen seien auf armenisches Territorium vorgedrungen und hätten die Souveränität des Landes verletzt. Das wäre normalerweise ein Fall für Artikel 4 der OVKS-Charta gewesen, der eine „Beistandspflicht“ vorsieht. Doch Moskau hielt sich bedeckt.

Das war wohl auch der Grund für einen Eklat beim OVKS-Gipfel zwei Monate später in Jerewan. Paschinjan weigerte sich, die gemeinsame Abschlusserklärung zu unterzeichnen, da die Verbündeten die „Aggression Aserbaidschans“ nicht deutlich verurteilt hätten.

Eine weitere Eskalationsstufe erreichte der Konflikt am 12. Dezember 2022. Angebliche aserabaidschanische Umweltaktivisten errichteten Zelte im Latschin-Korridor. Mit ihrer Aktion protestieren sie gegen eine angebliche Plünderung natürlicher Rohstoffe durch armenische Akteure. Baku spricht in diesem Zusammenhang von dem illegalen Betrieb zweier Minen.

Humanitäre Katastrophe

Die Blockade des Latschin-Korridors, die Russland bislang mit Untätigkeit quittiert, könnte für die rund 120.000 Ar­me­nie­r*in­nen in Bergkarabach schon bald zu einer humanitären Katastrophe werden. Denn viele Güter, wie Grundnahrungsmittel und Medikamente, die Armenien bislang nach Bergkarabach lieferte (vor der Blockade rund 400 Tonnen täglich) kommen dort nicht mehr an.

Laut einem Bericht des Onlineportals oc-media haben die Behörden in Stepanakert, Hauptstadt von Bergkarabach, angekündigt, ab dem 20. Januar Güter des täglichen Bedarfs zu rationieren und dafür ein entsprechendes System von Bezugsscheinen einzuführen. So würden an jede/n Be­woh­ne­r*in pro Monat jeweils ein Kilo Nudeln, Buchweizen, Reis, Zucker sowie ein Liter Speiseöl ausgegeben. Zudem müssten sich die Betroffenen vermehrt auf Stromausfälle einstellen.

Am vergangenen Sonntag gingen in Gjumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens, mehrere Dutzend Menschen auf die Straße und forderten von der Regierung, aus der OVKS auszutreten und die Beziehungen zu Russland abzubrechen. In Gjumri unterhält Moskau seine einizige Militärbasis im Südkaukasus. Dort sind bis zu 5.000 russische Soldaten stationiert.

Aufgerufen zu dem Protestmarsch hatte ein Oppositionsbündnis aus nationalistischen Parteien, die eine engere Zusammenarbeit mit den USA und der Europäischen Union propagieren. Laut Angaben der armenischen Polizei, die die Kundgebung gewaltsam auflöste, wurden 65 Demonstranten festgenommen.

Stiller Zeuge

Aber auch die armenische Regierung setzt jetzt verstärkt auf die internationale Staatengemeinschaft. So brachte Nikol Paschinjan, der Russland unlängst als stillen Zeugen einer Entvölkerung Bergkarabachs bezeichnet hatte, eine multinationale UN-Mission ins Gespräch – ein Ansinnen, das Aserbaidschan postwendend als inakzeptabel ablehnte.

„In dieser Nachkriegszeit der Unsicherheit und Ungewissheit steht nur eines fest: Russland ist eindeutig unzuverlässig und dauerhaft unberechenbar geworden“, zitiert das Nachrichtenportal eurasia.net Richard Giragosian, Direktor des Jerewaner Zentrums für Regionalstudien. „Seit der gescheiterten Invasion Moskaus in der Ukraine gelten die Logik und die Erwartungen an die russische Sicherheitsverpflichtung gegenüber Armenien nicht mehr. Die Aserbaidschaner handeln, weil sie es können.“

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