Der Hausbesuch: Schmetterlinge der Hoffnung

Die Kurdin Eylül A. ist mit ihrer Familie aus der Türkei geflohen, jetzt lebt sie in Stralsund. Ihre Fluchterfahrungen verarbeitet sie in Bildern.

Eine Person hält sich ein Smartphone vor das Gesicht.

Weil sie Anfeindungen fürchtet, will Eylül A. ihr Gesicht auf dem Foto lieber nicht zeigen Foto: Christian Rödel

Wenn die türkische Politik eine andere wäre, hätten Eylül A. und ihre Familie Istanbul nicht verlassen. Aber auch in Deutschland sind sie nicht sicher.

Draußen: Wohnhäuser reihen sich aneinander; die gelbbraune Fassade des Hauses, in dem die A.s wohnen, verschmilzt mit dem trüben Himmel. Eine leichte Brise weht, die Küste ist nicht weit. An das Haus grenzt ein Wald, direkt daneben ist eine Baugrube. Hier sollen klotzartige Einfamilienhäuser entstehen. An einer Straßenecke unterhalten sich ein paar glatzköpfige Männer mit Schäferhunden. Außer einem Supermarkt gibt es hier nichts.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Drinnen: Mit vier ihrer zehn Geschwister lebt die 22-jährige Eylül im zweiten Stock des schlichten Hauses. Auf einem grauen Esstisch ist ein Buffet angerichtet, neben gefüllten Weinblättern stehen eine Schüssel mit Bulgursalat und selbstgemachte Hefebrötchen. Im Wohnzimmer ist viel Trubel, immer ist eins der Geschwister unterwegs. Ihre Tante, die Eylül auch liebevoll „Mama“ nennt, bietet einen Tee an, ihr Bruder verzieht sich schnell zum Sport. An der Wand hängt eine Zeichnung, auf der eine Tänzerin abgebildet ist – Eylül hat es gemalt. Im Flur hängt ein Ölgemälde ihres Vaters.

Kindheit: Eylül ist in einem Vorort von Istanbul in einem achtstöckigen Wohnhaus aufgewachsen. Dort lebte die Familie über zwei Stockwerke in zwei Wohnungen. Jetzt wohnt die eine Hälfte in dem Haus am Wald, die andere Hälfte zehn Minuten entfernt. Ihre Heimat hängt ihr nach: Eylül liebt Istanbul, eine Stadt, in der sie immer wieder etwas Neues entdecken konnte. Ein schönes Leben hatten sie dort, ein Leben, das sie vermisst, sagt sie. „Wir hatten alles, was wir brauchten.“ Doch eines wurde ihnen immer mehr genommen: ihre Freiheit.

Politik: Eylül A.s Vater war Teil der politischen Opposition in der Türkei. In welcher Partei will Eylül aus Sicherheitsgründen nicht verraten, ihr Vater gilt als politisch verfolgt. Seit 2020 ist die Familie in Deutschland, doch auch hier gibt es Anfeindungen. Ihr Vater wurde erst kürzlich von Rechtsextremen angegriffen, erzählt Eylül. Deshalb will sie ihren Nachnamen nicht öffentlich nennen, auf dem Foto soll ihr Gesicht nicht zu erkennen sein. „Ich möchte lieber nicht über Politik reden“, sagt Eylül gleich am Anfang des Gesprächs. Man merkt auch so, dass das Thema eine große Rolle in der Familie spielt. Auch in Deutschland möchte ihr Vater wieder in die Politik gehen, doch erst einmal muss er Deutsch lernen.

Sprache: „Als wir ankamen, hat mein Vater gesagt: Das Allerwichtigste ist, dass ihr die Sprache lernt. Für euch, aber auch aus Respekt vor den Menschen im Land“, erzählt Eylül. Ihr Deutsch ist nahezu perfekt. Und auch ihr Vater hat hohe Ziele: Erst wenn er ein Buch von Goethe lesen kann, werde er das Gefühl haben, dass er die Sprache beherrsche, sagt sie. Neben Türkisch und Englisch spricht er die verschiedenen kurdischen Sprachen fließend.

Identität: Als Kurdin erlebte Eylül in der Türkei im Alltag häufig Rassismus, in der Schule war es ihr zum Beispiel nicht erlaubt, ihre Sprache zu sprechen. Doch ihre Eltern brachten ihr früh bei, dass sie sich nicht verstecken muss. „Ich war immer stolz, dass ich Kurdin bin.“ Ihre kurdische Identität prägte sie, doch für Eylül zählt nicht die Religion oder die Herkunft, sondern der Mensch dahinter, sagt sie. „Es geht im Leben darum, ein guter Mensch zu sein, daran glaube ich fest.“ Was das heißt, das hat sie von ihren Eltern gelernt, sie haben ihr gezeigt, was Respekt und Empathie bedeuten. „Meine Eltern haben uns Kindern ihr ganzes Leben gewidmet“, sagt sie.

Kunst: Schon als Kind hatte Eylül häufig Stift und Pinsel in der Hand, das Malen ist ihr Ein und Alles. Sie kann sich darin verlieren, die Zeit vergessen. „In der Türkei wird Kunst weniger wertgeschätzt als hier.“ Eylül ist überzeugt, dass Bilder auch helfen, Erfahrungen zu verarbeiten. Nach der Ankunft in Deutschland von einer Unterkunft in die nächste umzuziehen, das war alles andere als angenehm. Doch so lernte Eylül andere Geflüchtete kennen und merkte schnell: Die Flucht ist eine universelle Erfahrung. Alle Menschen erleben Angst und Trauer auf ihrem Weg. Eylül brachte diese Emotionen zu Papier, sie wollte den anderen Geflüchteten zeigen, dass sie nicht allein sind.

Eine Hand hält eine Kaffeetasse.

Die Familie zog von Unterkunft zu Unterkunft. Erst in Stralsund fühlte es sich wie ein neues Zuhause an Foto: Christian Rödel

Bilder: „Die Kunst hat ihre eigene Sprache“, sagt Eylül. Auf ihren Bildern sind oft ausdrucksstarke Gesichter oder fein gezeichnete Körper von Menschen zu sehen, die, kombiniert mit unterschiedlichen Symbolen, Einblick geben in das Innenleben. Auf einem Bild sieht man etwa eine Frau, die einem direkt in die Augen schaut. Ihr Blick ist traurig und leer, ihr Mund verbunden mit einem weißen Tuch. Bunte Schmetterlinge flattern auf der Höhe ihres Oberkörpers. Schmetterlinge tauchen immer wieder in den Zeichnungen auf, sie sind für Eylül das Symbol der Hoffnung. „Ich möchte mit meinen Bildern Empathie schaffen“, sagt sie.

Ankommen: Seit anderthalb Jahren lebt Eylül mit ihrer Familie in Stralsund, davor wechselte sie von einer Unterkunft in die nächste, in Bremen, Schwerin, die Familie wurde hin und her geschoben. „Die letzten Jahre möchte ich einfach vergessen.“ Es war ein ständiges Warten. Erst in Stralsund habe sich Deutschland wie ein neues Zuhause angefühlt, sagt sie. Hier knüpfte sie Kontakte mit einem migrantischen Verein, der ihr half, Anfang Januar eine erste Ausstellung zu organisieren. Es kamen fast einhundert Leute, für Stralsund eine Menge. „Als ich gesehen habe, wie sich der Ausdruck der Menschen verändert hat, als sie die Bilder gesehen haben, war ich unglaublich gerührt.“

Unzertrennlich: Eylül hat eine Zwillingsschwester. Es ist, als wärst du nicht allein auf die Welt gekommen“, beschreibt sie ihre Beziehung. Die beiden sind unzertrennlich, aber gleichzeitig komplett verschieden. Eylüls Liebe gilt der Kunst und der Literatur, ihre Zwillingsschwester spielt gerne Fußball und hört HipHop. Auch der Rest der Familie hält zusammen. In den Flüchtlingsunterkünften waren sie als „die Großfamilie“ bekannt. Sie lebten monatelang auf engem Raum, die Nähe machte ihnen nichts aus. „Wir sind wie ein eingespieltes Fußballteam“, sagt Eylül. Zwei der zehn Geschwister leben noch in der Türkei, allerdings nicht in Istanbul. Dort wurde es zu gefährlich für sie, sie zogen in die Heimatstadt der Familie im Südosten des Landes.

Träume: Eylül möchte Architektin werden. Sie will die Formen, die sie mit dem Stift zu Papier bringt, in der Realität entstehen lassen. Doch ihr Traum muss warten. Als sie nach Deutschland kam, war sie schon über 18, anders als ihr Vater erhielt sie kein politisches Asyl. „Die Begründung war, dass ich nicht politisch verfolgt werde, aber in Istanbul kennt jeder unsere Familie“, sagt sie seufzend. Zwei Klagen scheiterten. Um bleiben zu können, muss sie eine Ausbildung zur Bauzeichnerin machen. Erst danach kann sie Architektur studieren.

Der Helm: Eylül erinnert sich an eine staubige Baustelle vor ihrem Haus in Istanbul. Dort tummelten sich Arbeiter mit weißen Schutzhelmen. Das faszinierte sie, die Idee, Architektin zu werden, entstand. Als sie in Stralsund das erste Mal als Bauzeichnerin eine Baustelle besuchte, war sie ganz verwundert, dass niemand einen Helm trug. Ihr Chef sagte zu ihr, dass man den nicht unbedingt brauche. „Wisst ihr, wie lange ich darauf gewartet habe, bis ich diesen Helm tragen kann?“, entgegnete sie damals lachend. Seither halten die Handwerker einen Helm für sie parat, wenn sie auf die Baustelle kommt, erzählt sie.

Freiheit: An Deutschland schätzt sie vor allem eines: die Freiheit, sie selbst sein zu können. Auch ihrem Vater gehe es so, sagt sie. Vor Kurzem hat er einen türkischen Mann kennengelernt, die beiden kamen über Politik ins Gespräch. Es ging um die Diskriminierung von Kur­d:in­nen in ihrem Heimatland. Es war ein Gespräch, kein Streit. Das wäre so in der Türkei nicht passiert, sagt Eylül „In der Türkei gibt es keine Gedankenfreiheit.“ Es ist jener Glaube an die Freiheit, der Eylül in Deutschland hält und der ihr hilft, darüber hinwegzukommen, nicht mehr in ihrer Heimat zu sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.