Tod einer Reporterin im Westjordanland: Kreuzfeuer oder gezielte Tötung

Auch ein Jahr nach dem Tod der arabischen Journalistin Shireen Abu Akleh ist noch immer umstritten, wie es dazu kam.

Gemaltes Proträt von Shireen Abu Akleh mit blauer Journalistenschutzweste auf der Mauer in der Westbank

Ein Wandbild von Shireen Abu Akleh auf der israelischen Sperranlage bei Bethlehem Foto: Mahmoud Illean/ap

BERLIN taz | Die palästinensisch-amerikanische Journalistin Shireen Abu Akleh hatte unter der palästinensischen Bevölkerung viele Spitznamen: „Stimme der Wahrheit“ oder „Tochter Palästinas“. Ihre Nichte nannte sie einfach „Shushu“. 25 Jahre lang berichtete Shireen Abu Akleh für den Nachrichtensender Al Jazeera aus den besetzten palästinensischen Gebieten.

In einem Interview sagte sie, sie habe sich für den Journalismus entschieden, um nah bei den Menschen zu sein, um ihre Geschichten in die Welt zu tragen. Seit nun einem Jahr ist ihre Stimme nicht mehr zu hören. Zum Schweigen gebracht wurde sie vor genau einem Jahr durch einen Kopfschuss aus dem Gewehr eines israelischen Soldaten.

Am 11. Mai 2022 war die 51-jährige Journalistin unterwegs mit einer Gruppe von Pres­se­ver­tre­te­r:in­nen zur Berichterstattung über eine Razzia des israelischen Militärs in Dschenin. Ausgestattet mit Helmen und kugelsicheren Schutzwesten mit der Aufschrift „Presse“ gerät die Gruppe unter Beschuss. Der Journalist Ali Samoudi wird verletzt, Shireen Abu Akleh wird in den Kopf geschossen. Sie stirbt.

Die Reaktionen gehen anfangs auseinander. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas spricht von einem „kaltblütigen Mord des israelischen Militärs“. Das israelische Außenministerium dagegen gibt an, palästinensische Terroristen hätten den tödlichen Schuss wahrscheinlich abgegeben. Zwei Tage nach ihrem Tod ging die Gewalt weiter. Handyaufnahmen zeigen, wie israelische Militärkräfte Abu Aklehs Trauerzug angreifen und ihr Sarg fast zu Boden fällt.

In den darauf folgenden Wochen bringen investigative Recherchen von internationalen Medien neue Erkenntnisse. Die Washington Post zitiert einen Experten, demzufolge die Distanz zwischen Abu Akleh und dem Schützen fast exakt der Entfernung zwischen den Jour­na­lis­t:in­nen und einem israelischen Militärkonvoi in Schusslinie entspricht. Analysen der New York Times kommen zu demselben Ergebnis mit dem Zusatz, eine israelische Eliteeinheit sei „wahrscheinlich“ verantwortlich für die Schüsse. Die Auswertung von Videomaterial und Augenzeugenberichten zeigen für CNN sogar eine „gezielte Attacke“ des israelischen Militärs.

Untersuchungen des FBI

Das israelische Militär legt den Fall trotzdem mit einem im September veröffentlichten hauseigenen Bericht ohne strafrechtliche Verfolgung ad acta. Mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ seien die Schüsse zwar vom eigenen Militär gekommen, heißt es darin nun, aber letztlich habe es sich um einen Unfall in einem Kreuzfeuer mit palästinensischen Terroristen gehandelt.

Eine im November veröffentlichte umfangreiche Untersuchung des unabhängigen Forschungsinstituts Forensic Architecture widerspricht dieser Darstellung. Israelische Militärkräfte hätten „vorsätzlich und mehrfach“ auf Abu Akleh und die anderen Jour­na­lis­t:in­nen geschossen, wobei keine weiteren bewaffneten Personen in Reichweite gewesen seien. Darüber hinaus sei absichtlich Erste Hilfe für Abu Akleh durch anhaltenden Beschuss verhindert worden.

Da die Journalistin US-Staatsbürgerin war, sind auch die USA in die Diskussion involviert. Monatelang übernahm Joe Bidens Regierung die Haltung des finalen Berichts des israelischen Militärs. Überraschend kam deshalb die Ankündigung im November, dass das FBI nun selbst neue Untersuchungen anstellen wolle.

Inzwischen haben die Familie von Shireen Abu Akleh und Al Jazeera den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag aufgefordert, die nach ihrer Ansicht vorsätzliche Tötung der Reporterin durch das israelische Militär zu untersuchen. Sollte eine Untersuchung eingeleitet werden, kann sie mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Die Situation für palästinensische Re­por­te­r:in­nen bleibt gravierend. Allein im April dieses Jahres wurden mindestens neun Jour­na­lis­t:in­nen von israelischen Soldaten angegriffen. Sharif Abdel Kouddous, Investigativjournalist hinter der renommierten Dokumentation „The Killing of Shireen Abu Akleh“, sieht die Tötung von Abu Akleh als Präzedenzfall: „Wenn selbst in ihrem Fall niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann, welche Chance hat dann irgendwer in Palästina?“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.